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Als Einführung zu:

 

Die offengebliebenen Möglichkeiten

 

Bach, Heinz: Geistigbehindertenpädagogik, 15. Aufl., Berlin 1995, S. 7 ff

 

Da die ersten intensiven Bemühungen um das geistig behinderte Kind zumeist vom medizinischen Bereiche ausgehen, liegt es nahe, zunächst die ärztlichen Aussagen über die seelisch-geistige Situation und über die daraus abzuleitenden Erziehungsmöglichkeiten ins Auge zu fassen.

 

Hier wird teils in der Form klinisch eindeutiger Feststellungen, teils in der Form vorsichtiger Vermutungen von cerebralen Schädigungen, von funktionellen Störungen, von Vererbung usw. gesprochen und im Zusammenhang mit der Aufzeigung körperlicher Sachverhalte ein mehr oder minder fest umrissenes Erscheinungsbild als regelhaft zugehörig geschildert.

 

Die Mutmaßungen über die seelisch-geistige Situation des Geistigbehinderten werden dann ebenso wie die erzieherischen Möglichkeiten nicht selten einfach aus dem Erscheinungsbilde abgeleitet und bleiben dementsprechend weitgehend durch die Behinderung, durch die Symptomatik charakterisiert und damit stark eingeengt.

 

Der nicht durch eine traditionelle Schulmeinung festgelegte Arzt wird jedoch vor einem derartigen Kurzschlußverfahren warnen; denn er weiß, daß das äußere Erscheinungsbild nie in vollem Umfange in ursächlichem Zusammenhang mit den körperlichen Sachverhalten steht. Er weist darauf hin, daß ein mehr oder minder regelmäßiges Zusammentreffen bestimmter äußerer Erscheinungsformen mit körperlichen Gegebenheiten noch durch andere Bedingungen bewirkt sein kann, daß also Regelhaftigkeit nicht in jedem Falle und in vollem Umfange gleich Notwendigkeit ist.

 

So erweist es sich immer wieder, daß durch eine sinnvolle Erziehung das äußere Erscheinungs- und Verhaltensbild in mehr oder minder langer Zeit gelegentlich in erheblichem Maße verändert, gebessert werden kann — wenn auch eine Reihe bestimmter Züge der Wandlung widersteht. Jedenfalls wird die starre Zuordnung von körperlicher Ursache und Gesamtbild stark in Frage gestellt.

 

Diese Erfahrung ist für den Erzieher von großer Tragweite. Sie hebt manche voreilige Resignation auf und ermutigt in fundamentaler Weise.

 

Daneben ist es für den Erzieher des geistig behinderten Kindes in verschiedener Hinsicht unerläßlich, die ärztliche Aussage bedächtig zu berücksichtigen: Sie erwägt neben der Befunderhebung die Möglichkeiten einer Heilung oder Besserung eben der Behinderung und steckt die Grenzen dessen ab, was auf medizinischem Wege zu tun und auf Grund bisheriger Erfahrungen zu erwarten ist.

 

Ärztliche Diagnose und Prognose sind somit von hervorhebenswerter Bedeutung für die erzieherische Arbeit.

 

Sie geben dem Erzieher Auskunft darüber, mit welchen Gegebenheiten er hinsichtlich der Behinderung selbst zu rechnen hat, und was er von der Arbeit des Arztes erhoffen darf bzw. welche Veränderungen im organisch-funktionellen Bereich bei der Erziehungsarbeit von vornherein zu berücksichtigen sind.

 

Erst auf Grund sorgfältiger Kenntnisnahme dieser Aussagen wird der Erzieher seine Bemühungen angemessen dimensionieren und akzentuieren können und vor einem unangebrachten Illusionismus bewahrt bleiben, der bekanntlich leicht in eine resignierende Haltung umschlägt, aus der heraus gewöhnlich wesentlich weniger getan wird, als zu tun tatsächlich möglich wäre.

 

Trotz dieser Bedeutung der medizinischen Aussage ist es jedoch unerläßlich, sich ihre Grenzen für die erzieherische Arbeit zu vergegenwärtigen.

 

Die medizinischen Feststellungen sind mit ihrer Konzentration auf die Behinderung dazu angetan, die Blickrichtung des Erziehers allzusehr auf das Gebrechen, auf das Nicht-Mögliche festzulegen. Solche Faszinierung durch das Negative ist aber gerade für den Erzieher problematisch: denn er hat es gar nicht in erster Linie mit der Behinderung und mit den aus ihr erwachsenen Un-Möglichkeiten zu tun, sondern gerade mit den offengebliebenen Möglichkeiten.

 

So wichtig es für den Erzieher also ist, Art und Umfang der körperlichen Schäden, Anfälligkeiten und Gefahren des geistig behinderten Kindes einschließlich seiner Störungen im Bereich der Sinnesorgane und der Motorik zu kennen und sich ebenso der Retardierung und wechselseitigen Beeinträchtigung der einzelnen physischen und psychischen Abläufe, der geringen Spontaneität und der Abschalttendenz bewußt zu sein, so unfruchtbar ist doch im pädagogischen Bereich eine Beschränkung auf diese Perspektive.