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Prof. Dr. Barbara Fornefeld

 

 

Selbstbestimmung und Erziehung von Menschen mit Behinderung     Ein Widerspruch?

 

Die Realisation von Selbstbestimmung ist heute eine zentrale Aufgabe der Sonderpädagogik. Im Kontext von Erziehung und Bildung bleibt das Einlösen dieses Anspruches aber immer noch schwierig, weil Selbstbestimmung und Erziehung in einem gewissen Widerspruch zueinander stehen. Mit den nachfolgenden Ausführungen soll das tradierte Erziehungsverständnis kritisch hinterfragt und Aspekte eines erweiterten Bildungsverständnisses aufgezeigt werden.

Wenn ich hier die Frage stelle, ob Selbstbestimmung und Erziehung von Menschen mit Behinderung ein Widerspruch ist, dann möchte ich Sie auffordern, mit mir eine Standortbestimmung heutiger Pädagogik vorzunehmen, um hierbei nachzudenken über die Bedeutung von Erziehung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung.

Wo stehen wir am Ende dieses Milleniums nach 50 Jahren Auf- und Ausbau der Sonderpädagogik, einer Pädagogik, die durch die Einführung des Grundprinzips des Paradigmas der Selbstbestimmung von sich behauptet, noch nie so nahe an den Bedürfnissen und der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung gewesen zu sein wie heute? Obwohl für die Sonderpädagogik, die Autonomie - Selbstbestimmung - nicht Ziel, sondern Grundannahme ist, bleiben Diskriminierung und Desintegration für Menschen mit Behinderung auch im pädagogischen Feld bestehen, werden ihnen in Erziehungsprozessen Selbstbestimmungsmöglichkeiten vorenthalten. Diese Behauptung will ich mit einigen Beobachtungen belegen:

Beobachtung 1

In einer Außenwohngruppe eines Behindertenheimes leben acht Männer mit geistiger Behinderung im Alter zwischen 30 und 58 Jahren. Eine Studentin, Frau M., arbeitet hier mit dem 35jährigen Herrn S. Ziel ihrer Arbeit ist es, Herrn S., der über keine Verbalsprache verfügt, neue Ausdrucksmöglichkeiten zu erschließen. Mittlerweile kann Frau M. seine Äußerungen und Wünsche verstehen und hat mit ihm neue Gesten entwickelt. Er hat aufgehört sich zu beißen und die Kleidung zu zerreißen. Während meines Besuches sind wir spazierengegangen, wobei Frau M. Herrn S. an jeder Kreuzung nach dem Weg fragte. Der auf mich eher orientierungslos wirkende Mann konnte entscheiden, wohin er gehen wollte und fand schließlich den Weg heim.

Als wir das Haus betraten, sah ich in der Küche das von den Pädagoginnen zubereitete Abendbrot stehen: Teller mit belegten und in Stückchen geschnittenen Broten mit einer handvoll Trauben verziert. Alle Teller gleich, für jeden Bewohner dasselbe. Warum lässt man Herrn S., der ja Entscheidungen treffen kann, nicht selbst aussuchen, was er essen möchte? Dasselbe gilt für seine Mitbewohner. Wäre ein von den Bewohnern selbst zubereitetes Abendbrot wirklich zu aufwendig für das betreuende Personal? Um wessen Lebensqualität geht es denn eigentlich?

Beobachtung 2

Bei der Besichtigung einer geschlossenen Abteilung eines Landeskrankenhauses, in der lang hospitalisierte, mittelgradig geistigbehinderte Menschen leben, machte ich folgende Beobachtungen. Ein Mann, vielleicht Mitte 20, freute sich wohl über unseren Besuch. Er zog einen Besucher am Arm und deutete in Richtung seines Zimmers. Als beide dort ankamen, war die Türe verschlossen. Daraufhin wandte er sich an die Pädagogin und zeigte auf den Schlüssel in der Kitteltasche. "Nein, du weißt, dass du tagsüber nicht in dein Zimmer darfst", war ihre Antwort. Er versuchte es ein zweites Mal, wieder ohne Erfolg. Für mich ist es normal, Besuchern das eigene Zuhause zeigen zu wollen. Wozu das Verbot? Und warum nicht einmal eine Ausnahme vom Verbot? Ich habe es nicht verstanden.

Beobachtung 3

Beim Besuch einer Mittelstufenklasse einer Schule für Geistigbehinderte stellt mir die Lehrerin die Schüler vor und sagt: "Es fehlt noch Melanie, sie ist zur Toilette." Nach 20 Minuten sind Melanie und der Zivildienstleistende immer noch nicht zurück. Der Kommentar: "Sie bleibt so lange sitzen, bis sie erfolgreich ist. Wir müssen es doch endlich schaffen, sie trocken zu bekommen." Ob Melanie noch weiß, warum sie da sitzt?

Beobachtungen wie diese werfen die Frage auf, ob Begrenzung, Fremdbestimmung zum pädagogischen Alltag gehören und ob wirkliche Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung letztlich doch Utopie bleibt? Schließen Selbstbestimmung und Erziehung einander sogar aus? Sind Selbstbestimmung und Erziehung ein Widerspruch?

Mit der Frage nach dem Verhältnis von Selbstbestimmung und Erziehung sind weitreichendere oder grundsätzlichere Fragen geknüpft, nämlich die Frage, was Erziehung und mit ihr die Sonder-Erziehung heute wirklich noch ausrichten kann? Es gehört zur Aufgabe von Pädagogik, durch Erziehung der nächsten Generation gesellschaftlich verändernd zu wirken. Kann Pädagogik heute noch ihrer Aufgabe gerecht werden oder sind andere, außerpädagogische Einflussgrößen gefragt? Brauchen wir einen Perspektivenwechsel, damit "Normalisierung", "Integration" und "Selbstbestimmung", die Leitgedanken der Sonderpädagogik, Realität werden?

Mit der Frage nach dem Verhältnis von Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung und Erziehung verbindet sich ein Nachdenken über den erzieherischen Alltag und die Suche nach neuen Perspektiven für diesen. Aber neue Perspektiven entstehen nur, wenn man vom Gewohnten ablässt und sich umschaut. Darum werde ich den Blick von der Sonderpädagogik lösen und weiter auf ihr Bezugssystem, die Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft und die Gesellschaft mit ihren veränderten Anforderungen an professionelle wie elterliche Erziehung richten. Fangen wir bei der Letztgenannten an.

Mag man dem Spiegel in seiner Ausgabe (Nr. 47) vom 16. 11. 1998 glauben, dann sind Eltern austauschbar, und zwar weil, wie es dort einleitend heißt, neue Erkenntnisse der Psychologen das Weltbild vieler Eltern wanken lassen. "Der erzieherische Einfluss auf ihre Kinder ist offenbar kleiner als gedacht. Prägend wirken vielmehr Freundeskreis und soziales Milieu, den Rest geben die Gene vor" (1998, 110). In der modernen, in einer weitgehend von moralischen Werten entleerten Gesellschaft scheinen die Normen und Werte der Peer Group (der Freundeskreis, das soziale Mileu) für die Entwicklung des Kindes entscheidender zu sein als der elterliche Einfluss mit der Vermittlung tradierter Werte. Was zur Folge hat, dass sich der gesellschaftliche Wertewandel weiter beschleunigt. Es macht den Anschein, als ob der Halbzeitwert von Erziehung immer geringer und Erziehung bedeutungsloser wird. "Zwar könnten Eltern", so meint der Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann am Ende des Spiegel-Artikels versöhnlich, "das Ausgangstemperament ihrer Sprösslinge nicht verändern, aber vielleicht doch einige kleine Akzente setzen" (ebd. 135). Also doch nicht das Ende von Erziehung?

Wenn Eltern mit ihrer natürlichen Erziehung nur begrenzt Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder nehmen können, wie wirkungsvoll ist dann professionelle oder institutionelle Erziehung? Welchen Einfluss können professionelle Pädagoginnen und Pädagogen auf die Entwicklung von Kindern haben? Schließlich sollten diese doch die richtige Einflussnahme gelernt haben. Aber auch an ihnen wird permanent vehement Kritik geübt. So stellt der Berliner Erziehungswissenschaftler Elmar Tenroth beispielsweise fest: "Über die Disziplin und über die Erziehung hört man viel Tadel, und die Pädagogen klagen darüber, dass sie in der Öffentlichkeit die Anerkennung nicht finden, die sie für sich erwarten. Gegenwärtig sind es fast nur noch die Pädagogen selbst und gelegentlich einige empathische Bildungspolitiker des linken und liberalen Lagers, die positiv von der öffentlichen Erziehung sprechen; und nicht einmal die sprechen in der Regel gut von der Erziehungswissenschaft" (nach Baumgart 1997, 280). Tenroth geht der Klage-Topik der Pädagogik nach und kommt zu dem Schluss, wie Baumgart es formuliert: "Dass die pädagogische Reflexion über Erziehung und Bildung seit dem 18. Jahrhundert durch eine ‚Krisensemantik', durch die wieder ‚laute Klage' über den jeweiligen Zustand von Bildung und Erziehung, das Versagen von Bildungsinstitutionen wie die Schule über die mangelnde Anerkennung pädagogischer Berufe geprägt sei, die allerdings im deutlichen Gegensatz zum ‚stillen Sieg' der Pädagogik stehe, d h. zu einer fortschreitenden Pädagogisierung der Gesellschaft, zur Etablierung eines umfassenden Bildungssystems, zur Professionalisierung pädagogischer Berufe und zur Entwicklung der Pädagogik als anerkannte Teildisziplin im Chor der Wissenschaften" (Baumgart 1997, 227).

So schlecht scheint es demzufolge mit der Pädagogik und ihren Möglichkeiten der gesellschaftlichen Einflussnahme nun doch nicht bestellt zu sein. Und schaut man in die Stellenanzeigen großer Tages- und Wochenzeitungen, bestätigt sich die Beurteilung Tenroths. Viele Industriezweige öffnen sich heute für Geisteswissenschaftler und vor allem für Pädagogen, weil sie erkannt haben, dass diese Fähigkeiten besitzen, die sich ein Unternehmen z. B. im Bereich der Personalführung, des Personaltrainings und des Managements nutzbar machen kann. Für Sonderpädagoginnen und -pädagogen eröffnen sich gerade wegen ihres spezifisch didaktischen Wissens neue Berufs- und Handlungsfelder, zumal wenn sie sich bereits während ihrer Ausbildung den "neuen Medien" öffnen. Die Pädagogik scheint also gesellschaftsfähig zu werden.

Schaut man aber genauer hin und fragt, in welcher Weise die Pädagogik heute hoffähig ist, dann erkennt man, dass sie unter dem Deckmantel der allgegenwärtigen Qualitätssicherung auf ihre ökonomische Verwendbarkeit reduziert wird. Allein methodische Kompetenzen zur Wissens- und Konzeptvermittlung wie zum Interaktions- und Kommunikationsaufbau sind gefragt. Die Pädagogik als Praxis einer wertgeleiteten und wertbildenden Wissenschaft, die gesellschaftliche Prozesse beeinflussen will, gerät angesichts dieser pragmatischen Interessen ins Hintertreffen. An diesem Punkt, dem Problem des gesellschaftlichen Werteverlustes oder positiver: des Wertewandels schließt sich der Kreis der Schwierigkeiten elterlicher und professioneller Erziehung. Unsere sogenannte postmoderne Gesellschaft zeichnet sich durch eine utilitaristisch-minimalistische Moralität aus, die die Pädagogik zur Neudefinition ihrer Aufgabe herausfordert.

Wie bestimmt die aktuelle Pädagogik ihre Aufgabe der Erziehung und Bildung und in welcher Weise schließt sich die Sonderpädagogik diesem Verständnis an? Wie in vielen Wissenschaftsbereichen hat auch in der Erziehungswissenschaft strukturalistisches und systemtheoretisches Denken Fuß gefasst, was zur Konsequenz hat, dass diese ihr Erziehungsverständnis in Abkehr von der geisteswissenschaftlichen (humanistischen und neuhumanistischen) Tradition heute auf der Grundlage von Selbstorganisationstheorien, also eher naturwissenschaftlich als moralisch belegt. Nach Ansicht Lenzen's widersprechen die systemtheoretische und die strukturalistische Fassung des Erziehungsbegriffs einander nicht. Sie nehmen lediglich verschiedene Standpunkte ein. Ihnen ginge es im Wesentlichen darum zu zeigen, wie über die Vorgänge des Lehrens, Erziehens und Unterrichtens kognitive Strukturen beim Lernenden aufgebaut werden. Für Lenzen bleibt im Blick auf die normativ ausgerichteten Erziehungsbegriffe allerdings eine Frage offen: "Kann man es den Selbstorganisationsprozessen der Individuen überlassen, in welche Richtung sie sich entwickeln? Oder etwas anders gefragt: Wenn Selbstorganisation immer mit einer Ausweitung des Individuums gegenüber anderen Individuen verbunden ist, benötigen wir dann nicht ein Instrument, mit dessen Hilfe erreicht werden kann, dass Expansionsprozesse sich entfaltender Individuen an den Grenzen der anderen Individuen, an ihren "Rechten" enden?" (1999, 175 f.). Wir kommen also ohne Werte, ohne moralisches Denken in der Pädagogik nicht aus.

An der aktuellen Überbetonung der "kognitiven Strukturen" und der Soziabilität des Lernens und des Sich-Entwickelns in sozialen Gefügen stößt sich das sonderpädagogische Erziehungsverständnis. Und dies geschieht, weil in der konkreten Erziehung von Menschen mit Behinderung erkennbar wird, dass sich das Wesen und das Werden des Menschen nicht in der Kognition, im Wissen oder, noch anders ausgedrückt, in der Rationalität festschreiben lässt. Rationalität und Utilitarismus sind eng miteinander verbunden und bedingen einander. Das Erziehungsverständnis der Allgemeinen Pädagogik korrespondiert mit dem Menschenbild unserer postmodernen Gesellschaft mit ihren Schlagworten: "Produktivität", "Leistung", "Effizienz" usw. Es ist ein Menschenbild, das bei genauer Betrachtung ausschließend wirkt, weil es alles das zu eliminieren sucht, was nicht in diese Rationalität passt. Und so bleibt der gedankliche wie praktische Umgang mit Behinderung in unserer Gesellschaft schwierig.

Menschen mit Behinderung fallen aus dem Vorstellungsrahmen, weil wir, die sog. Nichtbehinderten ihre Wirklichkeit an der unseren messen. Weil wir unsere Vorstellungen als Bewertungsmaßstab von Leben und Zusammenleben verabsolutieren. Ein anderes durch Behinderung charakterisiertes Leben wird als Mangel, als Defizienz erlebt und abqualifiziert. Behinderung ist aber kein Mangel, ist nicht nur einfach Abweichung von etwas - wie etwa von der Normalität. Denn was ist schon normal bzw. die Normalität? Sie ist nur Allgemeinheit, Mehrheit, nicht Wirklichkeit und nicht Wahrheit. Sie ist und bleibt ein Konstrukt, verbunden mit dem Traum des Menschen, alles Abweichende und Störende eliminieren zu können.

Behinderung ist eine Seinsform des Menschen und muss als solche betrachtet werden. Der Philosoph Georg Stenger definiert Behinderung als Phänomen, "das, lässt man sich nur darauf ein, eine ganze Welt eröffnet, in der nicht nur alles ganz anders aussieht, sondern im Grunde auch nicht verglichen werden kann mit anderen, ohne dass man Entscheidendes nimmt, dies wird nur demjenigen klar, der einen Horizont dafür bereithält. Hat man ihn nicht, so erscheinen die Gegebenheiten auf einem anderen, gleichsam phänomenfremden Feld. Einem durch und durch ökonomischen Horizont erscheint alles unter einem Nützlichkeits- und Gewinnaspekt, sei dies für den einzelnen oder volkswirtschaftlich veranschlagt. Einem Menschen, dem der Horizont für Behinderung fehlt, vermag Behinderung lediglich als Mangel und Defizienz zu qualifizieren. Er sieht ‚Behinderung', das Phänomen nicht" (1999, 25). Behinderung als Phänomen zu betrachten heißt, sie "als veritable, eigenständige Größe, die ihre eigenen Möglichkeiten und Wirklichkeiten hat" (ebd. 28) zu begreifen. "Ein Blinder sieht nicht nur anders und anderes als ein Sehender, er sieht überhaupt erst, wie das Sehen zum Sehen kommt. Ein Sehen, das neu sieht und hört und schmeckt und fühlt." (Stenger 1999, 29)

Jeder Mensch besitzt seine Welt, eine Welt, die für den Anderen immer nur begrenzt erfassbar ist. Von der Pädagogik und mit ihr den Pädagoginnen und Pädagogen ist nun verlangt, dass wir uns bemühen, die Eigentümlichkeit der Welt des Anderen, des Kindes, zu verstehen. Und dies ist nur möglich, wenn wir uns dem Anderen in seiner einmaligen Andersheit öffnen, indem wir von unseren vorgefassten Meinungen und Einstellungen ablassen und uns auf ihn und seine Welt einlassen. Erziehung wird dann zu einer Art "Lebenspraxis" (Stenger). Sie ist mehr als didaktische Strategie und methodische Finesse. "Das Erziehungsgeschehen selbst erzieht, und so erziehen sich Erzieher und zu Erziehender gegenseitig. Sie entstehen erst aus diesem Prozess, ebenso wie die Sache, der Inhalt, um die es geht. Man ist nicht Erzieher, man wird es" (Stenger 1999, 27). Eine entscheidende Feststellung - das Berufenwerden zum Erzieher durch den zu Erziehenden, das Kind. "Man ist nicht Erzieher, man wird es", ist eine ethische Aussage, die in ihrer Bedeutung für eine Neubewertung der Sonderpädagogik deutlicher wird, wenn man sich dem Verhältnis von Selbstbestimmung und Erziehung zuwendet, weil hierbei das Erziehungsgeschehen als ein sich selbst erziehendes erscheint.

Das Thema Selbstbestimmung dominiert gegenwärtig wie kein anderes Thema die Diskussion über Fragen der Erziehung und Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung. Lindmeier kritisiert an dieser Diskussion, dass das sog. Selbstbestimmungsparadigma in der Geistigbehindertenpädagogik bislang "hinsichtlich der pädagogisch grundlegenden Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Erziehung und Bildung noch nicht hinreichend klar artikuliert" (1999, 209) sei. Die Selbstbestimmungsforderungen würden sich häufig ausschließlich auf die Bildung des Erwachsenen mit geistiger Behinderung beziehen (vgl. ebd. 210). Es würde vor einer zu starken Pädagogisierung des Lebensalltags von Menschen mit geistiger Behinderung gewarnt. Ihre Wünsche und Bedürfnisse müssten im Wohnheim- oder Werkstattalltag oder in der Freizeitpädagogik stärkere Berücksichtigung finden, damit es nicht länger zur Fremdbestimmung von außen und zur Infantilisierung von Erwachsenen kommt. Ziel ist die "Steigerung von Kompetenzen zur Erweiterung der Selbständigkeit" (ebd.). Zur Begründung der Notwendigkeit einer stärkeren Subjektzentrierung in der Arbeit mit geistigbehinderten Menschen werden "Bedürfnistheorien" aus der Motivations- oder Humanistischen Psychologie herangezogen. Selbstbestimmung wird damit zu einer Form der Selbstverwirklichung, der Raum zur Durchsetzung eigener Bedürfnisse gewährt wird. Selbstbestimmung würde, wie Lindmeier meint, durch den Rückgriff auf Bedürfnistheorien zur Selbstverwirklichung oder Selbstartikulierung.

Diese Sichtweise bleibt unzulänglich, wenn man sie auf den Bereich kindlicher Erziehung zu übertragen versucht. Mühl schreibt beispielsweise: "Kindheit und Jugend sind unter anderem dadurch definiert, dass ihnen nicht das Ausmaß an Selbstbestimmung wie dem Erwachsenenstatus zukommt, nicht, um an ihnen Macht auszuüben, sondern weil sie noch nicht die Kompetenzen zur Selbstbestimmung voll erreicht haben. Kinder und Jugendliche als zu Erziehende befinden sich in einer Situation, zumindest in Teilbereichen fremdbestimmt zu werden. Das ist ein notwendiges Bestimmungsstück von Erziehung. Man bezeichnet es auch als Unterlegenheitszumutung; den zu Erziehenden wird zugemutet anzuerkennen, dass andere über sie bestimmen, soweit und solange sie dies noch nicht selbst können. Die Zumutung kann allerdings nur dann abgefordert werden, wenn Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung führt" (1996, 312).

Die Ausführungen Mühls weisen auf das grundlegende Dilemma von Pädagogik hin und zeigen, warum die Realisation von Selbstbestimmung in der Erziehung von Kindern schwieriger scheint. Ziel von Erziehung und Bildung ist seit Aufklärung und Neuhumanismus die Freiheit verbunden mit einer "Stilisierung der Vernünftigkeit des Menschen" (Stinkes 1999, 74). "Erziehen und Bilden selbst bedeutet aber richtungsgebende Einflussnahme. Die Grundfrage aller Pädagogik lautet daher: Wie kann die Freiheit aus der installierten Einflussnahme hervorgehen?" (Lindmeier 1999, 215). Die grundsätzliche Frage lässt sich auch noch anders formulieren: wie kann die Selbstbestimmung des Heranwachsenden durch Fremdbestimmung erreicht werden? Mit diesen Fragen werden wir auf eine gewisse Paradoxie in unserem Erziehungsverständnis aufmerksam. Erziehung zu Freiheit, zu Selbstbestimmung qua Fremdbestimmung und Unfreiheit.

Lindmeier und Stinkes versuchen ein Lösung dieses Dilemmas, indem sie in ihren jüngst veröffentlichten Aufsätzen nach einem erweiterten Erziehungs- bzw. Bildungsverständnis fragen. Ihnen geht es darum, die Überbetonung der Vernunft oder Rationalität in unserem Erziehungs- und Bildungsverständnis zugunsten der Leiblichkeit zu überwinden. Für Lindmeier dient Bildung "nicht der Selbstbestätigung; es muss vielmehr ein Anreiz in der Bildung und Weiterbildung stecken, der mich über den Stand meiner Bildung als Ausdruck meiner Daseinsinterpretation hinaushebt und zu Selbstgewinn und Selbstüberschreitung führt." (Lindmeier 1999, 216). Selbstüberschreitung bedeutet also mehr als die Anreicherung des eigenen Wissens, es meint das gesamte Dasein des Menschen. In der Bildung als Selbstüberschreitung formt sich der Mensch in seiner Gesamtheit, wird es ihm aufgrund dieser Überformung möglich, mit neuer Entschiedenheit zu leben (vgl. ebd.).

Erziehung ist Provokation, ist eine Herausforderung ganz spezieller Art. Soll Erziehung lernwirksam sein, also beim Kind zur Selbstüberschreitung führen, dann muss die Provokation des Pädagogen oder der Pädagogin, also die Herausforderung "von außen" eine Entsprechung "von innen" (Evokation) finden. "In diesem lebendigen Wechselspiel von Provokation und Evokation zeigt sich, dass das ‚Außen', das Einfluss nimmt, nicht im Sinne eines ‚äußeren Reizes' innerhalb eines ‚Reiz-Reaktions-Zusammenhangs' aufgefasst werden darf, sondern dass es sich um einen Prozess handelt, im Zuge dessen sich das Subjekt (‚Innen') und die Welt (‚Außen') gleichzeitig aneinander und in der Einheit derselben Struktur konstituieren" (Lindmeier 1999, 218). Die Vorgegebenheit, die von außen kommt, muss in eine Selbstgegebenheit verwandelt werden oder mit anderen und einfacheren Worten, das Kind muss die vom Pädagogen oder der Pädagogin angebotene Welt zur eigenen - zur Welt für sich - machen. "Wir leben aus diesen Anleihen aus der Welt, wir leben von den Möglichkeiten, die wir von dem Anderen" her erhalten, sagt Ursula Stinkes (1999, 79). Das, was Schüler und Lehrer miteinander tun, muss zu einer wechselseitigen Herausforderung oder Provokation werden. Sie "sprengen je füreinander Ordnungsmuster, Erwartungen, Erfahrungsstrukturen, indem sie mit Überschüssen und Mangel konfrontiert werden, die sich nicht in eine Erwartung fügen lassen" (ebd. 78). Beide führen füreinander kein Schauspiel auf, sondern sind in einem dynamischen wechselseitigen Geben- und Nehmen-Prozess eingespannt, der ihr Handeln zu einem "Zwischenereignis" (Waldenfels) werden lässt. "Es ensteht ein außerordentliches (= anarchisches) ‚Neues', ein ‚Drittes', ein schöpferisches Ereignis, das sich einem subjektiv-geteilten, präreflexiven Lebenszusammenhang verdankt. Pädagogisches Handeln trägt diese Züge und steht in der widersprüchlichen Situation, etwas initiieren zu müssen, das im Grunde unmöglich zu initiieren ist und erst in der gemeinsam geteilten Situation als ‚Drittes' im Sinne der Bildung entsteht" (ebd. 79).

Jetzt wird deutlich, was Bildung eigentlich ist. Sie ist Selbstgestaltung des Menschen. "Bildung als Selbstgestaltung kann", wie Ursula Stinkes sagt, "nicht länger einen Akt der Selbstreflexion meinen. Unter Einbezug der Leiblichkeit menschlicher Existenz versteht sie darunter einen gemeinsam-geteilten, intersubjektiven Lebenszusammenhang" (ebd. 79/80).

Die Aufgabe des Pädagogen und der Pädagogin ist es, mit dem Kind eine Form leiblicher Erziehung zu realisieren, indem er sich auf das Kind und seine Welt einlässt, damit im unmittelbaren Erziehungsgeschehen ein ‚Drittes' zwischen ihnen entstehen kann. Ein ‚Drittes', das dem Kind den Mut zur Überwindung seiner Grenzen gibt und es damit auf seinem Weg zur Selbstwerdung stärkt (vgl. Lindmeier 1999, 219).

Jetzt wird deutlich, dass Selbstbestimmung viel mehr ist als nur die Artikulation oder Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse. Selbstbestimmung ist Arbeit an sich selbst.

"Freiheit, und um die geht es bei der Selbstbestimmung, kann somit nicht in dafür zur Verfügung gestellten ‚Freiräumen' real werden. Freiheit ist vielmehr der Durchbruch in einen eigenen Freiheitsraum; doch nur dort, wo ein Weg der Selbstartikulation gefunden wird, der nicht gegängelt ist, entsteht Authentizität. Authentizität, die auf Kreativität und Arbeit an sich selbst (Selbstkorrektur) verwiesen ist, kann also nicht ‚für sich allein' erlangt werden; sie ist vielmehr auf ein ‚Außen' von Vorgegebenheiten angewiesen, die je neu eröffnet und erschlossen sein wollen" (ebd. 220).

Um selbstbestimmt leben zu können, um diese Arbeit an sich selbst leisten zu können, bedürfen wir des Anderen. Das Kind bedarf des Pädagogen, wie er des Kindes. "Man ist nicht Erzieher, man wird es". Das Erziehungsgeschehen ist also ein Prozess, der selbst erzieht und zu dessen Wesensmerkmal die Selbstbestimmung als wechselseitiges "Arbeiten an sich selbst" gehört.

Erziehung ist also viel mehr als die bloße Vermittlung von Kompetenzen und Fertigkeiten, mehr als die bloße Anwendung sonderpädagogischer Konzepte und Methoden. Es geht in ihr auch um mehr, als nur um die Gewährung von Freiräumen für behinderte Menschen. Erziehung und Bildung müssen der Selbstgestaltung des Menschen dienen. Und dies tun sie, wenn sich Pädagoginnen und Pädagogen auf die Welt des Kindes einlassen, sie es durch ihre Lernangebote so provozieren, dass sich das Kind betroffen fühlt und bereit "zur Arbeit an sich selbst", zur Veränderung ist. Entscheidend ist im Erziehungsprozess das "Dritte", das, was sich zwischen Kind und Pädagogen ereignet. Erziehung bleibt im Kern also immer ein ethisches Geschehen, auch wenn das in unserer modernen, wertveränderten Gesellschaft so nicht mehr gesehen wird.

Neue Perspektiven in der Sonderpädagogik zu suchen, heißt für mich in erster Linie innehalten und fragen, was mich an den Anderen, das Kind, den Menschen mit Behinderung bindet. Um zu erkennen, dass er die Bedingung meines Handeln, aber auch meiner Existenz als Pädagogin, Pädagoge oder als Eltern ist. Behinderung ist ein Phänomen, das Respekt von uns verlangt, damit unser pädagogisches Handeln nicht über den Kopf des behinderten Menschen hinweg, sondern im Dialog mit ihm geschieht.

Literatur

Baumgart, F. (Hg.): Erziehungs- und Bildungstheorien, Bad Heilbrunn 1997

Lenzen, D.: Orientierung Erziehungswissenschaft - Was sie kann, was sie will, Hamburg 1999

Lindmeier, Ch.: Selbstbestimmung als Orientierungsprinzip der Erziehung und Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung - kritische Bestandsaufnahme und Perspektive, In: Die neue Sonderschule, 44. Jg., 3/1999, 209-224

Mühl, H.: Erziehung zur Selbstbestimmung durch handlungsbezogenen Unterricht. In: Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e. V. (Hg.): Selbstbestimmung...., Marburg 1996, 312-316

Stenger, G.: Phänomenologie diesseits von Identität und Differenz, In: Behinderte in Familie und Gesellschaft, 22. Jg., 3/1999, 21-31

Stinkes, U.: Auf der Suche nach einem veränderten Bildungsbegriff, In: Behinderte in Familie und Gesellschaft, 22. Jg., 3/1999, 73-81

Die Autorin

Prof. Dr. Barbara Fornefeld. Nach dem Studium der Geistig- und Lernbehindertenpädagogik und den Staatsprüfungen als Sonderschullehrerin an verschiedenen Schulen für Geistigbehinderte tätig; Schwerpunkt bildete dabei die Erziehung von Menschen mit schweren Behinderungen. Von 1986 bis 1990 Sonderschullehrerin im Hochschuldienst an der Universität zu Köln, Promotion in dieser Zeit. 1991 bis 1993 Tätigkeit als Professorin für Körperbehindertenpädagogik an der PH Ludwigsburg/Reutlingen; von 1993 bis 1996 Professorin für Mehrfachbehindertenpädagogik an der PH Heidelberg, 1994 Habilitation an der Universität zu Köln; seit 1996 Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik / Schwerstbehindertenpädagogik an der Universität zu Köln.

Universität zu Köln

Heilpädagogische Fakultät

Frangenheimstr. 4

D-50931 Köln

Quelle:

Barbara Fornefeld: Selbstbestimmung und Erziehung von Menschen mit Behinderung - Ein Widerspruch?

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/00; Reha Druck Graz

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Stand: 23.02.2005

URL: http://bidok.uibk.ac.at/library/beh1-00-selbstbestimmung.html

 


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