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Niklas Luhmann

(Ausgewählt und interpretiert von Hubertus Buchstein)

 

 

Die Zukunft der Demokratie

 

Je nachdem, welchen Begriff von Demokratie wir uns machen, sieht auch die Zukunft der Demokratie verschieden aus; und je nach der Zukunft sieht man dann auch in der Gegenwart schon Probleme, von denen man glaubt, daß andere sie nicht sehen oder sie nicht ernst genug nehmen. Wenn es bei Demokratie um Vernunft und Freiheit, um Emanzipation aus gesellschaftlich bedingter Unmündigkeit, um Hunger und Not, um politische, rassistische, sexistische und religiöse Unterdrückung, um Frieden und um säkulares Glück jeder Art geht, dann sieht es in der Tat schlimm aus. Und zwar so schlimm, daß die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß alles, was man dagegen tut, die Verhältnisse nur noch verschlimmert. Darüber zu reden möchte ich anderen überlassen.

 

Selbst bei einem engeren Begriff von Demokratie sind aber noch Eingrenzungsentscheidungen zu treffen, wenn man Boden unter die Füße bekommen will. Und auch hier gilt es, Unmöglichkeiten oder Extremunwahrscheinlichkeiten aus dem Begriff auszuschließen.

 

Demokratie ist nicht:

1. Herrschaft des Volkes über das Volk. Sie ist nicht kurzentschlossene Selbstreferenz im Begriff der Herrschaft. Sie ist also nicht.: Aufhebung von Herrschaft, Annullierung von Macht durch Macht.

In einer herrschaftstheoretisch fixierten Sprache ist die einzige Möglichkeit, Selbstreferenz auszudrücken; und das dürfte auch der Grund sein, weshalb das Wort ,Demokratie‘ überlebt hat.

Theoretisch aber ist die Annahme, daß das Volk sich selbst beherrschen könne, unbrauchbar.

Demokratie ist auch nicht.

2. ein Prinzip, nach dem alle Entscheidungen partizipabel gemacht werden müssen; denn das würde heißen: alle Entscheidungen in Entscheidungen über Entscheidungen aufzulösen. Die Folge wäre eine ins Endlose gehende Vermehrung der Entscheidungslasten, eine riesige Teledemobürokratisierung und eine letzte Intransparenz der Machtverhältnisse mir Begünstigung der Insider, die genau dies durchschauen und in diesem trüben Wasser sehen und schwimmen können.

Statt dessen schlage ich vor, unter Demokratie die Spaltung der Spitze zu verstehen: die Spaltung der Spitze des ausdifferenzierten politischen Systems durch die Unterscheidung von Regierung und Opposition. Man kann, in systemtheoretischer Terminologie, auch von Codierung des politischen Systems sprechen, wobei Codierung nichts anderes heißt, als daß das System sich an einer Differenz von positivem und negativem Wert orientiert: an der Differenz von wahr und unwahr im Falle der Wissenschaft, an der Differenz von Recht und Unrecht im Falle des Rechtssystems, an der Differenz von Irnmanenz und Transzendenz ins Falle des Religionssystems, und im Falle des politischen Systems eben an der Differenz von Regierung und Opposition (207-209).

Solange die Gesamtgesellschaft durch das Prinzip stratifikatorischer Differenzierung hierarchisch geordnet war, war eine solche Spaltung der Spitze undenkbar gewesen bzw. hätte Erfahrungen wie Schisma oder Bürgerkrieg, also Unordnung und Kalamität assoziiert. Erst wenn die Gesellschaft so strukturiert ist, daß sie als Gesellschaft keine Spitze mehr braucht, sondern sich horizontal in Funktionssyteme gliedert, wird es möglich, daß Politik mit gespaltener Spitze operiert. Die Politik verliert in dieser Situation, die heute unausweichlich ist, die Möglichkeit der Repräsentation. Sie kann sich nicht anmaßen, das Ganze im Ganzen zu sein — oder auch nur zu vertreten. Sie gewinnt aber die Möglichkeit einer eigenen Codierung (209).

Es ist keine Übertreibung, wenn man diese Spaltung der Spitze, diese Codierung des politischen Systems als eine höchst unwahrscheinliche evolutionäre Errungenschaft beurteilt. Politische Macht ist ja zunächst codiert, nämlich durch die Unterscheidung von überlegener und unterlegener Macht, oder, so zum Beispiel in Staatstheorien der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, durch die Unterscheidung von (überlegener) öffentlicher und (unterlegener) privater Macht.

Die Eindeutigkeit der Machtdifferenz war Motor und Ziel der Ausdifferenzierung eines besonderen politischen Systems gewesen. Dies wird durch eine Art Zweit- Codierung, durch Supercodierung der überlegenen Macht in eine positiv und eine negativ bewertete Person zwar nicht aufgegeben, aber relativiert.

Und zugleich verzichtet man darauf, die Regierungsgewalt mit der Autorität der richtigen Meinung auszustatten. Statt dessen gibt es eine ,,öffentliche Meinung“, die launisch wechselnd mal die Regierenden und mal die Opposition begünstigt. Die Oberste Gewalt wird labilisiert.

Es wäre eine Selbsttäuschung, sie jetzt der öffentlichen Meinung als dem heimlichen Souverän oder gar dem Volk zuzusprechen. Der Strukturgewinn liegt vielmehr in der Sensibilität des Systems. Diese strukturelle Errungenschaft korreliert ihrerseits mit der Ausdifferenzierung des politischen Systems als eines von vielen Funktionssystemen der Gesellschaft.

Diese Ausdifferenzierung bedeutet ja, daß das politische System in, nicht über einer hochkomplexen gesellschaftlichen Umwelt operieren muß, die durch eigendynamische Funktionosysteme ständig verändert wird.

Die Wirtschaft fluktuiert; die Wissenschaft erfindet Atombomben, empfängnisverhütende Pillen, chemische Veränderungen aller Art; Familien und Schulen erzeugen nicht mehr den Nachwuchs, den das Militär sich wünscht. Kurz: es geht für die Politik turbulent zu und eben deshalb kann sie nur noch als geschlossenes, ich sage gern:autopoietisches System operieren, das dann sich selbst auf Kontingenz codieren und programmieren muß. Die dazu passende strukturelle Erfindung hat aus historisch-zufälligen Gründen den Namen Demokratie bekommen (210-211).[1]

 

 

Personalia:

 

 

Die Systemtheorie von Niklas Luhmann (1927-1998) beansprucht den Status einer umfassenden Theorie sozialer Systeme. Nach einigen Jahren Arbeit als Verwaltungsjurist studierte Luhmann in den sechziger Jahren Soziologie und lehrte dann von 1969 zu seiner Emeritierung im Jahre 1993 soziologische Theorie an der Universität Bielefeld.

Neben Jürgen Habermas gilt Luhmann als der international bekannteste und bedeutendste zeitgenössische Sozialtheoretiker in Deutschland.

Abgesehen von Soziologie und der Politikwissenschaft wird Luhmann vor allem in der Kommunikationswissenschaft und in der Literaturwissenschaft rezipiert.

Sein Gesamtwerk umfasst mehr als 30 Bücher und einige 100 wissenschaftliche Aufsätze.

Die Systemtheorie geht zurück auf die Überlegungen des amerikanischen Soziologen Talcott Parsons (1902-1979) aus den fünfziger und sechziger Jahren.

Luhmann hat seine Theorie in einem Zeitraum von fast dreißig. Jahren bis zu seinem Tod konsequent weiterentwickelt, revidiert und ausgebaut.

In den ersten Jahren orientierte er sich noch enger an Parsons. Doch spätestens seit der Veröffentlichung des opus magnum ,,Soziale Systerne“ (1984)‘ hat seine Theorie eine Wendung genommen, die ob ihrer Radikalität mit der traditionellen Systemtheorie nicht viel mehr als ihren Namen gemein hat.

Luhmann beansprucht, sämtliche wichtigen Bereiche der Gesellschaft — die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Politik, das Rechtssytem, die Medien, die Erziehung, die Moral, die Religion, die Kunst, ja: auch die Liebe  — adäquat beschreiben zu können.

Kurz vor seinem Tode konnte er eine neue zweibändige Gesamtdarstellung seiner Theorie mit dem Titel "Die Gesellschaft der Gesellschaft" (1997) veröffentlichen.

Seit seinem Tode im Jahre 1998 werden weitere Arbeiten aus seinem Nachlass veröffentlicht,  zuletzt die drei Bücher "Die Religion der Gesellschaft", "Organisation und Entscheidung" und "Die Politik der Gesellschaft"  (alle 2000)

 

 

 

 



[1] Luhmann, Niklas: Die Zukunft der Demokratie. In: Der Traum der Vernunft, Vom Elend der Aufklärung. Herausgegeben von der Berliner Akademie der Künste. Darmstadt/Neuwied 1986, S 207-217