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Menschen mit multikausalen Behinderungsformen

 

 

Fachspezifische Sichtweisen und Definitionsansätze

(Extrakt aus: Speck, O.: Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Erziehung, 8.Aufl.,München/basel 1997, S. 45 ff)

 

 

Der medizinische Aspekt:

 

Jede geistige Behinderung hat ihre körperliche Basis. Die Fülle der zugrundeliegenden pathologischen Faktoren ist nahezu verwirrend groß.

Von zentraler Bedeutung ist die Schädigung des Gehirns.

Diese kann die verschiedensten Körperfunktionen in Mitleidenschaft ziehen. Die Vielfalt der körperlichen Erscheinungsbilder und der in Betracht kommenden Ursachen macht es schwer, diese zu ordnen, und jeweils die näheren Entstehungsbedingungen zu bestimmen.

Bei etwa der Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung liegen deshalb keine kausalen klaren Diagnosen vor. [1]

 

Es ist das Verdienst des 1990 erschienenen, von Neuhäuser und Steinhausen herausgegebenen Werkes, "Geistige Behinderung", die Einsicht herausgestellt zu haben, dass geistige Behinderung als komplexes Phänomen keine bloße medizinische Kategorie darstellt.

Unter dem dabei vertretenen Aspekt der interdisziplinären Ergänzung gewinnt der medizinisch ärztliche Bestimmungsrahmen an Klarheit, jedenfalls gegenüber dem älteren Begriffsschema der "Oligophrenien" (Debilität, Imbezillität, Idiotie) im Grunde psychologischen Leitbegriffen.

Der Informationswert - auch für Eltern - ist größer, wenn ärztlicherseits spezifizierte Krankheits- und Störungsbilder  ins Gespräch gebracht werden, wenn also geistige Behinderung an sich nicht mit "Krankheit" kurzgeschlossen wird.

In diesem Sinn ist es auch abzulehnen, im Unterschied zu geistig behinderten Kindern von "gesunden" Kindern zu reden.

Neuhäuser gliedert die große Zahl der klinischen Syndrome nach den Entstehungsphasen, also vor, während und nach der Geburt.. Als eigene Kategorie werden dann noch zusätzliche Störungen aufgelistet: Zerebrale Anfälle, zerebrale Bewegungsstörungen, Perzeptionsstörungen[2] und Demenz.

 

Die klinischen Syndrome, die bei einer geistigen Behinderung vorliegen können, werden wie folgt dargestellt:

 

·        Pränatal entstandene Formen

 

1.      Fehlentwicklungen des Nervensystems (Fehlbildungen und Differenzierungsstörungen des Zentralnervensystems)

2.      Genmutationen, die vor allem zu Stoffwechselstörungen (Metabolismus) führen können.

3.      Fehlbildungs- Retardierungssyndrome, bezogen auf das Körperwachstum auf Körperformen und Neigungen zu bestimmten Krankheiten.

4.      Fehlbildungen des Nervensystems, wie vor allem Makrozephalie und Mikrozephalie (vergrößerter bzw. verringerter Kopfumfang)

5.      Chromosomenanomalien, wie z. B. die Trisomien, von denen das Down-Syndrom als Trisomie 21 am häufigsten anzutreffen ist.

6.      Exogen verursachte pränatale Entwicklungsstörungen, bedingt durch Infektionen (z. B. Virus Infektionen), chemische Einwirkungen (Alkohol, Medikamente) und durch Strahlen bzw. sonstige Umweltbelastungen.

      Idiopathische[3] Form geistiger Behinderung (keine körperlichen Symptome bei zerebralen Funktionsstörungen, vermutlich erbbedingt.)

 

·        Perinatale Komplikationen mit der Folge einer geistigen Behinderung,

 

1.      sog. Gebutrtstraumata (Verletzungen von Gehirnteilen)

2.      Frühgeburten

3.      Erkrankungen des Neugeborenen z. B. die neonatale Meningitis (Hinrhautentzündung) oder eine Blutgruppenunverträglichkeit.

 

·        Postnatale Ursachen geistiger Behinderung

 

1.      Entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems: Miningitis (Hirnhautentzündung), Emzephalitis (Gehirnentzündung)

2.      Schädel-Hirn-Trauma z. B. durch Unfälle oder Kindesmisshandlungen

3.      Hirntumore

4.      Hirnschädigungen durch Intoxikation (Vergiftungen), Sauerstoffmangel oder Stoffwechselkrisen.

 

Zusätzlich mögliche und häufig auftretende Störungen, wie z. B. zerebrale Anfälle (Epilepsien) und auch psychiatrische Störungen können im engeren Sinn auftreten.

 

Steinhausen nennt:

 

 

Die Vererbtheit geistiger Behinderung, deren Bedeutung einst fälschlicherweise gefährlich hochgespielt wurde, kommt als Ursache nur in sehr geringem Maße in Betracht.

Zerbin-Rüdin[4] schätzt, dass nur etwa 5 bis 7 % der auftretenden geistigen Behinderungen erbbedingt sind, zumeist Stoffwechseldefekte.

Die immer wieder festgestellte familiäre Häufung von "Oligophrenien" bezieht sich eindeutig auf leichtere Ausprägungsgrade.

 

Die individuelle Form einer geistigen Behinderung ist nicht primär das direkte und bloße Ergebnis einer bestimmten körperlichen (neuronalen) Schädigung, sondern geht aus einem komplexen Wirkungszusammenhang "endogener" und "exogener", somatischer und sozialer Faktoren hervor - so hart und irreversibel die zugrundeliegende organische oder genische Schädigung auch sein mag.

 

 

Der psychologische Aspekt

 

Bei der psychologischen Begriffsbestimmung von geistiger Behinderung stand lange Zeit die Minderung der Intelligenz im Vordergrund.

 

Geistige Behinderung wurde direkt als intellektuelle Retardierung definiert.

Der Grad der geminderten Intelligenz wurde seit Binet und Simon über Intelligenz Testverfahren gemessen, als deren Ergebnis ein Intelligenzalter und Intelligenzrückstand, später durch W. Stern ein Intelligenzquotient (IQ) errechnet wurde.

Als dessen theoretische Basis wurde eine 'allgemeine Intelligenz' als konstante Größe pro Individuum angenommen. Entsprechend verallgemeinernd fielen dann die Kategorisierungen aus z. B. als Imbezillität unterhalb eines IQ von 70.

 

Da aber das, was an Intelligenz gemessen wurde begrifflich stets unklar blieb, sich aber die immer verbreiteter verwendeten IQ Tests als praktisch und unverzichtbar erwiesen, konnte man redlicherweise als Intelligenz nur das verstehen, was durch IQ Tests gemessen wurde.

 

In Kritik geriet auch die Annahme einer Angeborenheit von Intelligenz. Es konnte lernpsychologisch nachgewiesen werden, dass für die Entwicklung von sog. Intelligenz auch soziale und kulturelle Bedingungen massgebend sind.[5]

 

Da  aber zugleich eine gewisse Konstanz des IQ über die verschiedenen Entwicklungsstufen hinweg als erwiesen galt, gelangte man zu einer Koppelung von Intelligenzleistung und sozialer Anpassung.

Zu deren näherer Bestimmung wurden eigene Sozial-Entwicklungstests konstruiert.

 

Kritik: Obwohl das Messen einer 'allgemeinen Intelligenz' mittels eines Durchschnittswertes als unzulänglich gilt, und obwohl die für Durchschnittsintelligenzen konstruierten I-Tests bei Personen mit einer geistigen, zumal mit einer schweren geistigen Behinderung nicht adäquat verwendbar bzw. untauglich sind, werden I-Testverfahren nach wie vor praktiziert.

 

Es scheint sich eine pragmatische Einsicht zu bestätigen, dass es - bei allen Mängeln - kein geeigneteres Instrument zur Grobeinschätzung intellektueller Leistungsfähigkeit gibt.

Sowohl wenn es um schulrechtlich zu belegende Plazierungsentscheidungen oder um wissenschaftliche Forschung geht, bei der man vergleichbare Zahlenwerte braucht sieht man sich genötigt, I-Tests durchzuführen.

 

Es waren auch schulische Objektivierungserfordernisse, wie z. B. die Unterscheidung von Lernbehinderung und geistiger Behinderung, die es nötig machten, IQ Werte bzw. Standardabweichungen als Klassifizierungsmarken einzuführen.

So nannte Bach[6] zur Kennzeichnung von geistiger Behinderung einen IQ von unterhalb 55/60, während der real praktizierte Grenzwert zwischen Lernbehinderung und geistiger Behinderung bei 60/65 lag.[7]

 

 

 

 

Es handelt sich bei den angesprochenen Grenzwerten eindeutig um grobe Orientierungsmarken. (Das Klassifikationsschema der Standardabweichungen hat ohnehin im wesentlichen nur statistischen Wert.)

 

Nachdem der schulrechtliche Begriff der Sonderschulbedürftigkeit mit seiner klassifizierenden Wirkung seine frühere Bedeutung eingebüsst hat, ist sonderpädagogisch ein verringertes Interesse an der Durchführung von I Tests zu verzeichnen.

 

 

Neuere Forschungsergebnisse

 

An Bedeutung dürften dagegen psychologische Forschungsergebnisse gewinnen, wie sie u. a. von Gardner[8] (amerik. 1985 'Frames of Mind') aus komplexer kognitionswissenschaftlicher Sicht vorgelegt worden sind.

 

Gardner verabschiedet den IQ mitsamt der ihm zugrundeliegenden 'allgemeinen Intelligenz' und legt stattdessen eine Theorie der multiplen Intelligenzen vor.

Aus den verschiedenen Wissenschaften, die Erkenntnisse zur Klärung des Komplexes kognitiver Kompetenzen beitragen können, u. a. der Neurobiologie oder der Ethnologie, werden Indizien zusammengetragen, die für die Existenz mehrerer, relativ autonomer Intelligenzen sprechen.

Gardner geht von mindestens 7 solcher getrennt fungierender Intelligenzen aus.

 

Gardner nennt:

 

·        eine linguistische Intelligenz

·        eine musikalische Intelligenz

·        eine logisch-mathematische Intelligenz

·        eine räumliche Intelligenz

·        eine körperlich-kinästhetische Intelligenz

·        zwei personale Intelligenzen als

intrapersonales Wissen (um sich selbst) und als

interpersonales Wissen (um den anderen)

 

 

Es ist aufschlussreich, dass Gardners Theorie sich auch auf Beobachtungen an retardierten und autistischen Kindern stützt, bei denen immer wieder auffallend intakte Teilkompetenzen festgestellt wurden.

 

Damit werden auch praktische pädagogische Erfahrungen mit Personen mit einer geistigen Behinderung bestätigt, die z. B. ungewöhnliche musikalische, künstlerische oder körpertechnische Talente, aber auch einen differenziert ausgeprägten Sinn für sich selbst und für andere aufweisen.

 

 

Für das Lernen ist auch die kontextuell bestimmte Intelligenztheorie von Sternberg von Bedeutung.[9]

 

 

Der soziologische Aspekt

 

Geistige Behinderung ist letztlich bei aller neurophysischer oder gemischten Bedingtheit stets auch Ausprägungsform der Sozialisation.

Es gibt auch eine primäre soziale Kausalität für die Entstehung geistiger Behinderung. Dies kann der Fall sein bei schweren sozialen (sensomotorischen) Deprivationen, bei denen die neurale Entwicklung massiv behindert wird und deshalb zurückbleibt. (Kaspar-Hauser-Syndrom)

Weithin bekannt sind die retardierenden Bedingungen einer sozial anregungsarmen Umwelt für die Entstehung leichterer Formen geistiger Behinderungen (Lernbehinderung).

 

Die Bedeutung des soziologischen Aspektes lässt sich insbesondere am Verhältnis von Sozialschicht und geistiger Behinderung explizieren. (darlegen, erklären, erläutern)

 

Eggert[10] hatte 1969 erstmals eine relativ hohe Quote geistig behinderter Kinder ermittelt, die aus der sozialen Schicht der "sozial Verachteten" stammten, nämlich 22,4 % gegenüber 2 % repräsentativ erwarteten.

Eggert vermerkte ausdrücklich, dass es sich um eine "relativ zufällige" Population, um eine nicht repräsentative Stichprobe gehandelt habe, uns schränkte damit die Gültigkeit der gefundenen Werte ein. (Population = Gesamtheit der Individuen)

"Der Unterschied zwischen den Lernbehinderten und den Geistigbehinderten liegt also darin, daß die Lernbehinderten massiert aus den unteren sozialen Schichten stammen, während die Geistigbehinderten aus allen sozialen Schichten stammen."[11]

 

Untersuchungsbefunde anderer Forscher, z. B. von R. Heber über die Begemann[12] berichtete, bezogen sich i. a. auf die Gesamtpopulation der mentally retarded, unter denen der "subkulturelle Typ" nach der damaligen Definition am stärksten vertreten war, so dass für den hier angesprochenen Personenkreis geistig behinderter Menschen noch keine bündigen Aussagen abzuleiten waren bzw. zur Verfügung standen.

 

Differenziertere Daten wurden von Kushlick und Blunden[13] 1974 bekannt, die epidemiologische Erhebungen in England (Wessex) durchgeführt hatten. Ihre Feststellungen lauten: In Industriegesellschaften verteilen sich die Eltern geistig behinderter(severely subnormal) Kinder gleichmäßig über alle sozialen schichten der Gesellschaft, während Eltern leichter behinderter (mildly subnormal), also lernbehinderter Kinder vorherrschend aus den unteren sozialen Schichten stammen.

 

Zum gleichen Befund kommt J. Carr[14]. Sie unterschied dabei Down-Kinder von anderweitig geistig behinderten Kindern. Das Ergebnis ihrer Studien: "Im Gegensatz zu Familien der leicht Retardierten, die vorwiegend in Arbeiter-Klassen-Populationen gefunden worden sind, sind Familien der Geistigbehinderten gleichmäßig verteilt über alle Sozialschichten der Gesellschaft."

 

Darüber hinaus fand Carr Hinweise für eine für eine Bestätigung der Annahme von Penrose[15], dass Kinder mit einem Down-Syndrom häufiger in Familien der beiden oberen Sozialschichten anzutreffen sind.

 

Geistig behinderte Kinder ohne Down-Syndrom fanden sich dagegen häufiger in der untersten sozialen Schicht.[16]

 

Deutliche Hinweise für eine stärkere Belastung der Unterschichtfamilien mit geistig behinderten Kindern brachte die epidemiologische Studie von Liepmann[17], die im Bereich Mannheim durchgeführt worden war.

Sie ergab, "daß geistig behinderte Kinder überzufällig häufig der unteren Sozialschicht bzw. der "Arbeiterklasse" angehören"[18]

 

Liepmann betrachtet selbst diese Ergebnisse als unerwartet und sieht sie im Widerspruch zu den meisten Befunden dieser Art.

 

 

Die hier referierten soziologischen Befunde zeigen, die hohe Bedeutung sozialer Komponenten für das Zustandekommen einer geistigen Behinderung bzw. für die Erklärung dessen, was komplex darunter zu verstehen ist.

Hinzugefügt werden könnten noch Daten zur sozialen Versorgung geistig behinderter Personen.

Die soziale Situation prägt massgeblich das Bild dieser Behinderung.[19]  [20]  [21]

 

 

 

 

Weitere epidemiologische[22] Befunde

 

Die Kenntnis der Zahl Geistig behinderter Personen innerhalb einer Gesellschaft ist von Bedeutung für den Ansatz sozialer Maßnahmen. Sie erlauben auch gewisse Rückschlüsse auf die Wirksamkeit von Prävention und Förderung oder negativer Einflussfaktoren.

Die Epidemiologie untersucht die Verbreitung und Aufteilung von Schädigungen und ihren Bedingungen.

 

Dabei werden vor allem zwei Grundbegriffe verwendet, die im Englischen incidence und prevalence lauten und übersetzt werden können mit Auftretens- und Verbreitungshäufigkeit. Beide sind in hohem Mass von sozialen Bedingungen abhängig.

 

Es gibt gegenwärtig keine Methoden, um die Auftretenshäufigkeit von geistiger Behinderung genau zu bestimmen. Dies hängt u. a. mit den definitorischen Schwierigkeiten, aber auch mit der faktischen Erkennbarkeit zusammen. Ähnliches gilt für die Feststellung der Verbreitungshäufigkeit.[23]

 

Für die (alte) Bundesrepublik Deutschland kann ein Anteil von 0,6 % der Kinder im schulpflichtigen Alter als geistig behindert eingeschätzt werden.[24]

 

Aber: da die meisten dieser Untersuchungsergebnisse relativ älteren Datums sind, soll hier auf eine ausführlichere Darstellung der verschiedenen anderen Ergebnisse verzichtet werden.

 

Tendenzen:

Mit dem Ausbau der sozialen Dienste außerhalb der Einrichtungen und mit der Zunahme der sozialen Toleranz in der Bevölkerung hat sich inzwischen das Bild ein Stück verändert. Und sozial begründete Heimeinweisungen haben längst abgenommen. Es kann aber nicht davon die Rede sein, dass schwerer behinderte Menschen generell in offenen Wohnformen leben. Im Gegenteil: Die Heime melden eine verstärkte Nachfrage für solche Menschen.

 

 

 

 

Der pädagogische Aspekt

 

Die pädagogische Förderung (Erziehung, Unterricht, Therapie) bedarf eines eigenen Verständnisses dessen, was als geistige Behinderung bezeichnet wird.

Für die Pädagogik ist eine geistige Behinderung sowohl ein Phänomen vorgefundener und zu erfassender Wirklichkeit, wie sie sich im organischen pathologischen Zustand, in der individuellen Befindlichkeit und in den gesellschaftlichen Bedingungen darstellt, als auch eine Wirklichkeit, die unter dem Anspruch von Menschlichkeit erzieherische Hilfe zur Entfaltung braucht, und von Werten und Normen bestimmt wird.

 

Erziehung vollzieht sich im Wandel der Zeit und ist auch dem Wandel der Lebensformen unterworfen. Ihre Erfordernisse werden von Institutionen mitbestimmt, die wiederum von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig sind.

Erziehung folgt sowohl (speziellen) Erziehungsbedürfnissen des einzelnen, als auch gesellschaftlichen Bildungsaufträgen.

Spezielle Erziehung (hier kann auch der Bereich der Menschen mit Behinderungen genannt werden) ist Hilfe zur Selbsthilfe d. h. Hilfe zur Lebensverwirklichung, soweit sie der einzelne Mensch braucht.

 

 

Geistige Behinderung als spezielle pädagogische Aufgabe

 

Geistige Behinderung bezieht sich pädagogisch gesehen auf eine spezifische Aufgabe. Sie liegt darin, die besten Möglichkeiten der Erziehung zu finden, wo diese durch elementare Blockierungen des Handelns und Denkens erheblich erschwert oder in Frage gestellt ist.

Das wesentliche sehen wir im unteilbaren Begriff der Erziehung, die für alle Edukanden gilt, also im Gemeinsamen aller Erziehung unter dem Anspruch der Menschlichkeit, der 'conditio humana'[25], gleichgültig, ob diese auf Hindernisse stößt oder nicht.

 

Geistige Behinderung erhält in diesem Sinn lediglich die Funktion einer speziellen Komponente. Bleidick spricht von 'intervenierender Variable des Erziehungsvorganges'[26]

 

In diesem Sinn humaner Integrativität wird nicht das Anderssein in den Vordergrund gestellt und als Leitprinzip gesehen, sondern das humane, und deshalb edukative Gemeinsame.

Das Behinderungsspezifische ist das Sekundäre.

 

Damit ist aber keine Abwertung der Heilpädagogik gemeint: Die Heilpädagogik enthält hier erst den Ort im Bestimmungsrahmen alles Edukativen.

 

Je besonders und absondernder sich die Sonderpädagogik oder die Heilpädagogik versteht, desto mehr löst sie sich aus dem normativen Orientierungs- und Begründungsrahmen von Erziehung an sich.

 

So gesehen erscheint es treffender, z. B. von Kindern mit einer geistigen Behinderung zu sprechen, als von den 'Geistigbehinderten' Diese Kinder gelten dann pädagogisch als Kinder mit speziellen Erziehungsbedürfnissen.[27]

 

 

Aus diesem pädagogisch integralen Ansatz lassen sich folgende pädagogische Orientierungsthesen ableiten:

 

·        Geistige Behinderung gilt als normale übliche Variante menschlicher Daseinsform.

·        Die Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung orientiert sich an den allgemeinen edukativen Erfordernissen, Werten und Normen.

·        Die Spezifizierung des Pädagogischen orientiert sich an den besonderen individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten ebenso wie an den sozialen Bedingungen und Erfordernissen im Sinne einer wirksamen Verbesserung der gemeinsamen Lebenssituation.

 

Was Erziehung dabei zu leisten hat, kann als Lebenshelfen unter erschwerten Bedingungen angesprochen werden.[28]

 

Es war H. J. Pestalozzi, der diesen Ansatz aus seiner Idee der reinen Menschenerziehung als Rettung der im größten Elend vergessenen Kinder begründet hat. Zum Leben helfen heißt dann, soziale Isolierung zu vermeiden oder abzubauen und Umwelt zu erschließen, damit sich der Mensch mit geistiger Behinderung darin aufbauen kann als Träger und Teilhaber gemeinsamer Kultur.

 

Da eine geistige Behinderung ein besonderes Mass an Hilflosigkeit setzt, ist Erziehung als Lebenshelfen besonders angezeigt.

 

Ohne eine entsprechende erzieherische elementare Anregung, Unterstützung und Führung, - Pestalozzi spricht von 'allseitiger Besorgung'' - drohte ein seelisch-geistiger Existenzverlust. Da sich der Mensch mit einer geistigen Behinderung am wenigsten selber helfen kann, braucht er im besonderen Hilfe zur Selbsthilfe, erzieherisches Helfen, um menschlich leben zu können in sozialer Eingegliedertheit.

Was er als Mensch werden kann, wird er allein durch Erziehung.

 

 

Geistige Behinderung im pädagogischen Prozess

 

Erziehung verändert, d. h. verbessert den Status einer geistigen Behinderung. Nichterziehung oder Fehlerziehung verschlechtern ihn.

 

Der durch Erziehung in Gang gebrachte Prozess wird durch verschiedene Faktoren bestimmt. (Art und Grad der physischen Schädigung, Persönlichkeitseigentümlichkeiten und soziale Bedingungen), ist also prinzipiell offen in seinem Fortgang und Ausgang, im Gegensatz zu einem statisch bestimmten Modell, beidem der geistig behinderte Mensch zum bloßen fixierten Objekt von Maßnahmen und Institutionen wird.

Geistige Behinderung vollzieht und verändert sich vielmehr in ständiger Wechselwirkung mit der Sozial- und Sachwelt.

Dieser umfassende Prozess- und Wechselwirkungscharakter geistiger Behinderung lässt sich am folgenden interaktionellen Modell verdeutlichen. Er fasst gleichzeitig die verschiedenen Bestimmungsgrößen zusammen, die oben von den verschiedenen wissenschaftlichen Befunden her dargestellt worden sind.

 

 

Interaktionales Modell der Genese und der Prozesse geistiger Behinderung (wird später behandelt)

 

Die psycho-physische Schädigung bezieht sich in aller Regel auf das Zentralnervensystem und kann sehr verschieden verursacht sein.

Sie beeinträchtigt einerseits mit permanenter Wirkung die Funktionabilität des Organismus und führt so zu unmittelbaren Lebenserschwerungen.

Andererseits gilt sie aber auch als soziale Abweichung von den Normen der Gesellschaft her gesehen. Gerade die geistige Behinderung ist angesichts ihrer besonderen 'Visibilität' (Sichtbarkeit) spezifischen sozialen Abwehrmechanismen in Form von Stigmatisierungen und Sanktionen ausgesetzt.

Umgekehrt können diese ausbleiben, wenn die Erkennbarkeit einer tatsächlichen neuralen Schädigung nicht gegeben ist.

 

Wichtig erscheint auch die Einsicht, dass nicht die organisch-genetische Schädigung selbst bereits die geistige Behinderung darstellt, sondern dass diese psycho-physische Abweichung lediglich den Auslöser eines personal sozialen Prozesses darstellt, der zur geistigen Behinderung in ihrer Komplexität führt.

Die Umwelt mit ihren Normen und Sanktionssystemen hat eine unübersehbare Bedeutsamkeit für Menschen, die im oben genannten Sinn psychophysisch vom Üblichen abweichen.

Historisch gesehen reichen die Reaktionsweisen von integrierender Toleranz bis zu physischer Vernichtung.

Dazwischen liegt eine ganze Skala der verschiedenen Einstellungen, wie z. B. degradierendes Mitleid, Achtlosigkeit, soziale Distanz, Vernachlässigung, Feindseligkeit.

Das Schulsystem z. B. spiegelt in seiner Geschichte deutlich die verschiedenen Positionen wieder: von der 'Absonderung' über die 'Schulbefreiung' und 'Bildungsunfähigkeit' zur 'Schulpflicht' und schließlich zur 'Integration'.

 

 

 

 

Erst aus der Wechselwirkung der genannten Faktoren ergibt sich die ganze Komplexität dessen, was unter 'geistiger Behinderung' im Sinn einer pädagogisch-sozialen Aufgabe zu verstehen ist.

 

Die pädagogische Aufgabenstellung kann sich so gesehen nicht nur auf das einzelne geistig behinderte Kind/Jugendlicher und sein Lernen beziehen, sondern muss als dreidimensioniert gesehen werden. Sie ist bezogen auf das 'Subjekt' (Kind/Jugendlicher) auf die zu berücksichtigende physische/psychische Schädigung und auf die Umwelt zugleich (Pädagogisches Dreieck)

 

Geistige Behinderung bezieht sich auf spezielle Erziehungsbedürfnisse, die bestimmt werden durch eine beeinträchtigte intellektuelle und gefährdete soziale Entwicklung, dass lebenslange pädagogisch-soziale Hilfen zu einer humanen Lebensverwirklichung nötig werden.

 

 

 



[1] vgl. Liepmann, M. C.: Geistig behinderte Kinder und Jugendliche, Eine epidemiologische klinische und sozialpsychologische Studie in Mannheim, Bern, Stuttgart, Wien, 1979, S. 101

[2] Per|zep|ti|on <lat.> die; -, -en: 1. sinnliches Wahrnehmen als erste Stufe der Erkenntnis im Unterschied zur Apperzeption (1) (Philos.). 2. Reizaufnahme durch Sinneszellen od. -organe (Med.; Biol.).

[3] i|di|o|pa|thisch: selbstständig, von sich aus entstanden (von Krankheiten; Med.); Ggs. traumatisch (1).

[4] vgl. Zerbin-Rüdin, E.: Genetische und biologische Faktoren, in: Neuhäuser, G., Steinhausen, H. C. (Hg), Geistige Behinderung, Grundlagen, klinische Syndrome, Behandlung und Rehabilitation, Stuttgart 1990, S. 24 ff

[5] vgl. Spreen, O.: Geistige Behinderung, Berlin, Heidelberg, New York 1978, S. 18

[6] vgl. Bach, H. (Hg): Pädagogik der Geistigbehinderten, Handbuch der Sonderpädagogik Bd. 5, Berlin 1979

[7] vgl. Liepmann, M. C.: a.a.O.

[8] vgl. Gardner, H.: Abschied vom IQ, Die Rahmentheorie der vielfachen Intelligenzen, Stuttgart 1991

[9] vgl. Sternberg, R.: Beyond IQ, A triarchic theory of human intelligence, Cambridge 1985

[10] vgl. Eggert, D.: Ein Beitrag zur Sozial- und Familienstatistik von geistig behinderten Kindern, in:

Zimmermann, K. W. (Hg): Neue Ergebnisse der Heil- und Sonderschulpädagogik, Bonn 1969,

[11] Eggert, D.: a.a.O., S. 35

[12] vgl. Begemann, E.: Die Erziehung der sozio-kulturell benachteiligten Schüler, Zur erziehungswissenschaftlichen Grundlegung der "Hilfsschulpädagogik", Berlin, Darmstadt, Dortmund, 1970

[13] vgl. Kushlick, A., Blunden, R.: The Epidemiology of Mental Subnormality, in: Clarke,A. M., Clarke, A. D. B. (Eds): Mental Defiency, The Changing Outlook, London 1974, 3. Aufl. S. 31 - 81

[14] vgl. Carr, J.: The Effect of  the Severely Subnormal on their Families ,in: Clarke, Clarke (Eds): a.a.O.,

S. 807 - 839

[15] vgl. Penrose, L. S., Smith, G. F.: Down's anomaly, London 1966, S. 1938

[16] Penrose, L. S.: a.a.O., S. 808

[17] vgl. Liepmann, M. C.: a.a.O..

[18] vgl. Liepmann, M. C.: a.a.O., S. 71

[19] vgl. Bracken, H. v.: Vorurteile gegen behinderte Kinder, ihre Familien und Schulen, Berlin 1976

[20] vgl. Thomas, D.: The Social Psychology of Childhood Disability, London 1978. Deutsch: Sozialpsychologie des behinderten Kindes, München/Basel 1980

[21] vgl. Cloerkes, G.: Einstellung und Verhalten gegenüber Behinderten, Eine kritische Bestandsaufnahme internationaler Forschung, Berlin 1985

[22] E|pi|de|mi|o|lo|gie die; -: Wissenschaft von der Entstehung, Verbreitung, Bekämpfung u. den sozialen Folgen von Epidemien, zeittypischen Massenerkrankungen u. Zivilisationsschäden.

[23] vgl. Thimm, W. (Hg): Soziologie der Behinderten, Materialien, Neuburgweiher/Karlsruhe 1972

[24] vgl. Sander, A.: Die statistische Erfassung von Behinderten in der Bundesrepublik Deutschland, in: Deutscher Bildungsrat (Hg): Sonderpädagogik 1, Stuttgart 1973, S. 13 - 109

[25] wörtl. Die Bedingung der Menschlichkeit (ohne die es nicht geht)

[26] vgl. Bleidick, U.: Pädagogik der Behinderten, Berlin 1978, 3. Aufl., S. 196

[27] vgl. Speck, Behinderung, Besondere Erziehungsbedürfnisse und allgemeine Leistungsprobleme, in: Österreichische Gesellschaft für Heilpädagogik, (Hg): Neue Impulse in der Heilpädagogik, Wien, München 1978, S. 66 - 78

[28] vgl. Kron, F. W.: Grundwissen Pädagogik, München/Basel 1988, S 177 f