VOLKER LADENTHIN
Süddeutsche Zeitung vom 30.03.1996
Bei der Suche nach Sparmöglichkeiten im Studium faßte man in verschiedenen Kultus- und Wissenschaftsministerien einen tollen Diätplan: Man plante - zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen -, daß die universitären Prüflinge nicht mehr vier Monate an ihren schriftlichen Hausarbeiten basteln mußten, sondern nur noch drei Monate. Mit dieser Maßnahme hoffte man das Studium zu verschlanken und besonders die seit langem zu beobachtende Dickleibigkeit von Abschlußarbeiten zu kurieren. Man sprach von Exemplarität - und meinte damit, daß Prüflinge am Teilgebiet vorführen sollten, was sie grundsätzlich am Ganzen durchführen könnten: die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten.
Abschlußarbeiten sollten nicht unbedingt einen Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt liefern. Sie sollten, wie es Prüfungsordnungen juristisch trockengelegt formulieren, 'der Feststellung' dienen, ob die Prüflinge ein Thema 'innerhalb eines bestimmten Zeitraums selbständig wissenschaftlich, gegebenenfalls künstlerisch, bearbeiten können'.
Nicht wissenschaftlicher Ertrag ist also laut Prüfungsordnung das Ziel der Anstrengung, sondern der Beweis, daß man wissenschaftlich tätig sein kann. Die Geprüften sollen nicht wissenschaftlich arbeiten, sondern wissenschaftlich 'bearbeiten'. Die Abschlußarbeit soll - so legen es die Formulierungen nahe - eine Art Showlauf für den anzunehmenden wissenschaftlichen Ernstfall sein.
Kann man Wissenschaft prüfungshalber vorturnen? Die Methoden der Wissenschaft dienen der Erforschung von Neuland, nicht der Nacherzählung oder Aufbereitung von Forschungsberichten. Die Bestimmung, daß eine Abschlußarbeit nicht der Sache, sondern der 'Feststellung' einer Fähigkeit dient, verführt dazu, daß in Abschlußarbeiten Wissenschaft nur simuliert wird: Aus der Gliederung wird dann ein 'Inhaltsverzeichnis', aus der Einleitung ein 'Vorwort'.
Schützte noch vor einigen Jahren die Schreibmaschine mit verschmutzten Typen, verblassendem Farbband und Flatterrand vor optischer Perfektion, so sehen nun schon Examensarbeiten vom computerformatierten Druckbild her so aus, als seien sie in altehrwürdigen wissenschaftlichen Verlagen erschienen. Kopfzeilen und Kolumnentitel erwecken den Eindruck eines Standardwerkes. Zudem kann man durch Wahl von Schriftgröße, Schrifttyp und Seitenformat nahezu jeden Seitenumfang innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft künstlich erzeugen.
Schöner Schein
Zu dieser Simulation von Wissenschaft gehört schließlich der Umfang des Literaturverzeichnisses wie der des ganzen Werkes. Seitdem die elektronische Datenverarbeitung Einzug in Bibliotheken gehalten hat, ist es ein Leichtes, nahezu vollständige Bibliographien zu einem noch so entlegenen Thema durch Knöpfchendrücken zu erstellen. Und durch das Einscannen kann man Testpartien leichthändig einarbeiten, die man noch wenige Jahre zuvor von der Photokopie abtippen und noch einige Jahre davor mühselig in der Seminarbibliothek auf Karteikarten 'exzerpieren' mußte. So nehmen Zitate in den Abschlußarbeiten merklich zu. Sie ersetzen die Paraphrase, die mühselige Wiedergabe des Gedankenganges - und schließlich das Denken. Zugleich aber erwecken sie den Anschein von Wissenschaft - denn sie bereichern die Zahl der Fußnoten ebenso wie das Layout einer Seite: Zumeist sind Zitate kursiv gesetzt, von kleinerer Schriftgröße und eingerückt: It's showtime!
Die Umfangsvergrößerung von Examensarbeiten hat aber auch einen prüfungstaktischen Grund: Wer alles bietet, wird sicher jedem Prüfer etwas bieten. Um sich vor möglicher Kritik abzusichern, schreibt man alles hin, was man weiß oder gefunden hat. Eine Auswahl kann man kritisieren - ein vollständiges Angebot nicht. Um den Prüfungsstreß abzubauen, sichern sich viele Examensarbeiter dadurch ab, alles, was auf den Bildschirm oder vor den Scanner kam, einzubringen: Niemanden kann man für Mehrarbeit mit Notenabzug rügen.
Ob durch solchen Drang zu Umfänglichkeit und Vollständigkeit wissenschaftliches Arbeiten demonstriert wird, ist zweifelhaft. Daß Wissenschaft auf diese Weise erfolgreich simuliert werden kann, ist sicher. Dabei gibt es objektive Gründe, die es schwer machen, sich in Abschlußarbeiten kurz zu fassen. Denn selbst altgediente Fachleute klagen über eine Literaturflut, die sie kaum noch ins Gehirn einschleusen und auf die Mühlen des eigenen Denkens fließen lassen können. Es gibt keine seriöse Publikation mehr, die nicht über die 'unübersehbare Literatur' klagt und bekennt, nicht mehr alles, was zum Thema gehört, 'eingesehen zu haben'. Unter diesem Überfluß leiden mehr als die gestandenen Fachwissenschaftler jedoch die Examenskandidaten, die ja die Fachliteratur zumeist erst beim Bearbeiten des Themas sichten - und nicht schon seit Jahren gesichtet und in Dateien übersichtlich gespeichert haben.
Weiße Flecken auf der wissenschaftlichen Landkarte sind nur noch von Spezialisten zu finden sind. Kaum ein Germanistikstudent wird sich noch an das Motiv des Mondes in der Lyrik, kaum eine Philosophiestudentin an das Erkenntnisproblem, ein Psychologiestudentenpaar an Neurosen, ein Geographiestudent an die Oberrheinische Tiefebene herantrauen. Es scheint alles gesagt. Und so muß man interessante Fragestellungen wie schwarze Schwäne suchen, um zu dokumentieren, daß man das 'Teilgebiet der Vertiefung' (Jargon einer Prüfungsordnung) 'wissenschaftlich bearbeiten' kann. Oft brauchen Examensarbeiten die Hälfte ihres Umfanges, um erst einmal das Problem zu entwickeln, dessen Lösung man dann angehen will.
Verkürzungen der Zeit, in denen man Examensarbeiten abfassen kann,
tragen wohl kaum dazu bei, den Umfang von Abschlußarbeiten auf lange
Sicht zu verringern. Sie fördern eher die Kreativität derjenigen,
die vielleicht in drei Monaten das zusammentragen und vorführen sollen,
was man zuvor in vier Monaten gesammelt hat. Solche Beschneidungsversuche
tragen zudem dazu bei, daß neue, ungeahnt effektive Textverarbeitungsprogramme
entwickelt werden.