Die Erziehbarkeit
des geistig behinderten Kindes[1]
Bach, H.: Geistigbehindertenpädagogik, 15. Aufl., Berlin 1995, S.6 ff
Fraglos hängt der Erfolg aller Erziehungsbemühungen
um das geistig behinderte Kind von seiner Erziehbarkeit (hier gleichsinnig mit
"Bildbarkeit“ gebraucht) ab.
1. Die scheinbare Unerziehbarkeit
Bekanntlich haben geistig
behinderte Kinder lange Zeit als "bildungsunfähig“ oder als -erziehungsunfähig“
gegolten, und zwar vor allem, weil man einen ganz bestimmten Bildungsbegriff voraussetzte, der an dem von der
Volksschule angebotenen Bildungsgut orientiert war.
Wer dem Bildungsgang der
Volksschule nicht zu folgen vermochte, galt nun nicht etwa als
„volksschulbildungsunfähig“, sondern als ,,bildungsunfähig“ schlechthin.
Nicht viel anders war es
vielerorts in der Mitte unseres Jahrhunderts im Bereiche der Sonderschule für Lernbehinderte
(Hilfsschule). Die Kinder, welche auch ihren Anforderungen nicht genügen
konnten — und hier handelt es sich weitgehend um die Gruppe der
Geistigbehinderten —, wurden als ,,bildungsunfähig“ abgewiesen oder ausgeschult
— und dies, obschon es offenkundig war, daß sie doch ein gutes Teil an
schlichten Kenntnissen und Fertigkeiten erworben hatten, was unstreitig als
Erfolg eines Bildungsprozesses anzusehen wäre.
Ebenso verhängnisvoll wie
logische Mängel hinsichtlich der genannten Begriffsbildung und -benutzung
wirken sich diagnostische Fehler aus, die darin bestehen, daß man
Möglichkeiten, die man auf den ersten und zweiten Blick nicht sieht und die
sich auch nach mehrwöchiger Beobachtung noch nicht zeigen und schon gar nicht
in einer sterilen Untersuchungssituation, prinzipiell auszuschließen geneigt
ist und somit das Nichtgesehene als Nichtvorhandenes und
Unmögliches diagnostiziert.
Abgesehen davon, daß
Erziehbarkeit ohnehin nie als eine isolierte und konstante Größe aus ihrem
ganzen Bedingungsgeflecht herausdestilliert werden kann, gilt, daß Befunde umso
schwieriger zu erhalten sind, je geringer die vorhandenen Möglichkeiten und je
geringer die bisherigen erzieherischen Einflußnahmen zu veranschlagen sind.
Was als ,,Bildungsunfähigkeit“
oder -Erziehungsunfähigkeit“ erscheint, wird demgemäß in der weit überwiegenden
Mehrzahl der Fälle richtiger als verborgene,
verschüttete oder verkannte Erziehbarkeit zu bezeichnen sein.
Dies ist vor
allem deswegen bedeutsam, weil das Urteil ,,bildungsunfähig“ tatsächlich von
tragischem Gewicht ist; denn es rechtfertigt nicht nur pädagogische
Resignation, sondern es fordert sie geradezu heraus. Sofern aber der Mensch zum
Menschen erst wird durch Erziehung, kommt die Abweisung durch den Begriff der
,,Bildungsunfähigkeit“ praktisch einem Todesurteil über den Menschen
hinsichtlich seiner Menschlichkeit gleich und ist als leise Euthanasie zu
bezeichnen.
Angesichts dieses Sachverhaltes ist es also von
außerordentlicher Bedeutung, die Erziehbarkeit des geistig behinderten Kindes
aufzuspüren, freizulegen und selbst die winzigsten Ansätze durch unermüdliches
erzieherisches Engagement hervorzulocken.
Da nun der Erfolg aller erzieherischen Bemühungen wesentlich
von Kenntnis und Verständnis der seelisch-geistigen Situation des geistig
behinderten Kindes abhängt, wird sich die Aufmerksamkeit vorab in dieser Richtung
zu konzentrieren haben.
2. Der beeinträchtigte Bereich
Da die ersten intensiven Bemühungen um das geistig
behinderte Kind zumeist vom medizinischen Bereiche ausgehen, liegt es nahe,
zunächst die ärztlichen Aussagen über
die seelisch-geistige Situation und über die daraus abzuleitenden
Erziehungsmöglichkeiten ins Auge zu fassen.
Hier wird teils in der Form klinisch eindeutiger
Feststellungen, teils in der Form vorsichtiger Vermutungen von cerebralen
Schädigungen, von funktionellen Störungen, von Vererbung usw. gesprochen und im
Zusammenhang mit der Aufzeigung körperlicher Sachverhalte ein mehr oder minder
festumrissenes Erscheinungsbild als regelhaft zugehörig geschildert. Die
Mutmaßungen über die seelisch-geistige Situation des Geistigbehinderten werden
dann ebenso wie die erzieherischen Möglichkeiten nicht selten einfach aus dem
Erscheinungsbilde abgeleitet und bleiben dementsprechend weitgehend durch die
Behinderung, durch die Symptomatik charakterisiert und damit stark eingeengt.
Der nicht durch eine traditionelle Schulmeinung festgelegte
Arzt wird jedoch vor einem derartigen Kurzschlußverfahren warnen; denn er weiß,
daß das äußere Erscheinungsbild nie in vollem Umfange in ursächlichem
Zusammenhang mit den körperlichen Sachverhalten steht. Er weist darauf hin, daß
ein mehr oder minder regelmäßiges Zusammentreffen bestimmter äußerer
Erscheinungsformen mit körperlichen Gegebenheiten noch durch andere Bedingungen
bewirkt sein kann, daß also Regelhaftigkeit nicht in jedem Falle und in vollem
Umfange gleich Notwendigkeit ist.
So erweist es sich immer wieder,
daß durch eine sinnvolle Erziehung das äußere Erscheinungs- und Verhaltensbild
in mehr oder minder langer Zeit gelegentlich in erheblichem Maße verändert,
gebessert werden kann — wenn auch eine Reihe bestimmter Züge der Wandlung
widersteht. Jedenfalls wird die starre Zuordnung von körperlicher Ursache und
Gesamtbild stark in Frage gestellt.
Diese Erfahrung ist für den
Erzieher von großer Tragweite. Sie hebt manche voreilige Resignation auf und
ermutigt in fundamentaler Weise.
Daneben ist es für den Erzieher
des geistig behinderten Kindes in verschiedener Hinsicht unerläßlich, die
ärztliche Aussage bedächtig zu berücksichtigen: Sie erwägt neben der
Befunderhebung die Möglichkeiten einer Heilung oder Besserung eben der
Behinderung und steckt die Grenzen dessen ab, was auf medizinischem Wege zu tun
und auf Grund bisheriger Erfahrungen zu erwarten ist.
Ärztliche Diagnose und Prognose
sind somit von hervorhebenswerter Bedeutung für die erzieherische Arbeit. Sie
geben dem Erzieher Auskunft darüber, mit welchen Gegebenheiten er hinsichtlich
der Behinderung selbst zu rechnen hat, und was er von der Arbeit des Arztes
erhoffen darf bzw. welche Veränderungen im organisch-funktionellen Bereich bei
der Erziehungsarbeit von vornherein zu berücksichtigen sind. Erst auf Grund
sorgfältiger Kenntnisnahme dieser Aussagen wird der Erzieher seine Bemühungen
angemessen dimensionieren und akzentuieren können und vor einem unangebrachten
Illusionismus bewahrt bleiben, der bekanntlich leicht in eine resignierende
Haltung umschlägt, aus der heraus gewöhnlich wesentlich weniger getan wird, als
zu tun tatsächlich möglich wäre.
Trotz dieser Bedeutung der
medizinischen Aussage ist es jedoch unerläßlich, sich ihre Grenzen für die
erzieherische Arbeit zu vergegenwärtigen.
Die medizinischen Feststellungen
sind mit ihrer Konzentration auf die
Behinderung dazu angetan, die Blickrichtung des Erziehers allzusehr auf das
Gebrechen, auf das Nicht-Mögliche festzulegen. Solche Faszinierung durch das
Negative ist aber gerade für den Erzieher problematisch: denn er hat es gar
nicht in erster Linie mit der Behinderung und mit den aus ihr erwachsenen
Unmöglichkeiten zu tun, sondern gerade mit den offengebliebenen Möglichkeiten.
So wichtig es für den Erzieher
also ist, Art und Umfang der körperlichen Schäden, Anfälligkeiten und Gefahren
des geistig behinderten Kindes einschließlich seiner Störungen im Bereich der
Sinnesorgane und der Motorik zu kennen und sich ebenso der Retardierung und
wechselseitigen Beeinträchtigung der einzelnen physischen und psychischen
Abläufe, der geringen Spontaneität und der Abschalttendenz bewußt zu sein, so unfruchtbar
ist doch im pädagogischen Bereich eine Beschränkung auf diese Perspektive.
3.
(entfällt)
4. Zur Dauer der Erziehbarkeit
Grundsätzlich
ist die Dauer der Erziehbarkeit eines Menschen nicht vorauszusagen. Sie hängt einerseits
von individuell stark variierenden biologischen Prozessen und andererseits von
den Erziehungseinflüssen ab, denen er ausgesetzt wird bzw. denen er sich
aussetzt. Zudem stehen diese im Einzelfall schwer abschätzbaren Faktoren in
einem Korrelationsverhältnis zueinander.
Weder
generell noch im Einzelfall kann daher für die Dauer der Erziehbarkeit ein
einigermaßen fest abgesteckter Zeitrahmen angegeben werden. Während sich bei
manchem Menschen die Erziehbarkeit erst im 2. und 3. Lebensjahrzehnt voll zu
entfalten scheint und in den folgenden Lebensjahren zunehmend differenziert,
erweitert oder akzentuiert, ist im allgemeinen mit einem individuell stark
variierenden allmählichen quantitativen und qualitativen Abnehmen der Erziehbarkeit zu
rechnen in der Form einer Verengung und Verlangsamung der Lernprozesse, die
mitunter auch ganz zum Erliegen kommen.
Als
besonders bedeutsame Erziehungseindrücke sind neben dem täglichen Umgang und
dem Beruf insbesondere die schulischen Bemühungen zu nennen. Im allgemeinen
kann man feststellen, daß die Dauer der Erziehbarkeit umso größer ist, je
länger und intensiver die gezielte Erziehungsarbeit schulartigen Charakters
einwirkt. Keineswegs darf jedoch das übliche Abschlußalter der allgemeinen
Schulpflicht als pädagogisch-psychologisch begründbare Zäsur gesehen werden,
von der ab die Erziehbarkeit ohnehin so stark abnähme, daß sich eine weitere
gezielte Erziehungsarbeit nicht mehr lohnen würde, Vielmehr wird die Dauer der
Erziehbarkeit durch den vorzeitigen Abschluß gezielter Erziehungsarbeit zumeist
praktisch verkürzt. Dieses Vorgehen ist durch bestimmte, an Traditionen
gebundene praktische Bedürfnisse der Gesellschaft bedingt.
Für
geistig behinderte Kinder, deren seelisch-geistige Entwicklung sich wesentlich
langsamer vollzieht als die von nicht behinderten Kindern, muß selbst bei
Respektierung dieser praktisch-traditionellen Gegebenheiten eine entsprechend
größere Zeitspanne gezielter Erziehungseinwirkungen eingeräumt werden, um ihnen
ein Optimum an seelisch-geistiger Entwicklung zu ermöglichen.
Prinzipiell
ist auch für sie die Dauer der Erziehbarkeit nicht vorauszusagen, da weder
medizinische Fortschritte hinsichtlich der Besserungs- oder
Heilungsmöglichkeiten bestimmter Formen geistiger Behinderung kalkulierbar,
noch gelegentliche Spontanbesserungen oder Nachreifungen auszuschliessen sind.
Ferner sind exakte Darstellungen der Entwicklung geistig Behinderter, die noch
über das zweite Lebensjahrzehnt hinaus intensiv und unter optimalen Bedingungen
fachkundig und intensiv erzogen wurden, nicht bekannt.
Allerdings
wird bei geistig Behinderten ebensowenig wie bei nicht Behinderten mit einer
Erziehbarkeit zu rechnen sein, die eine unbegrenzte, intensive, stufenweise
aufbauende Erziehungsarbeit erlauben würde. Nach vorliegenden Erfahrungen gibt
es Stufen, die trotz aller fachmännischen Bemühungen von geistig Behinderten
nicht überschritten werden. Ist solche Stufe erreicht, kommt es zu einer
Stagnation, zu Mechanisierungen des bereits Erworbenen und lediglich noch zu
selbst für den geistig Behinderten geringfügigem Erfahrungszuwachs.
Obschon
es also angebracht erscheint, nachdrücklich vor Illusionen hinsichtlich der
Erziehbarkeit des geistig behinderten Kindes zu warnen, muß doch für einen realistischen Optimismus eingetreten
werden: Es sollte erzieherisch alles sinnvoll Erscheinende unermüdlich versucht
und die Phase intensiver und kontinuierlicher Erziehungsbemühungen zumindest bis zum Ende des zweiten Lebensjahrzehnts ausgedehnt werden, um ein Optimum an
seelisch-geistiger Entwicklung zu erreichen.
Eine
Beschränkung der Erziehungsbemühungen auf die übliche Zeit der Schulpflicht muß
in aller Regel angesichts der außerordentlich erschwerten Entwicklungs- und Lebensbedingungen
des Geistigbehinderten als unzureichend angesehen werden.
Darüber
hinaus gilt für den Geistigbehinderten mehr als für jeden anderen, daß das
Erworbene stetiger Übung und Pflege bedarf, soll das gewonnene Terrain
nicht rasch wieder verlorengehen.