Theorieansatz
Die offengebliebenen Möglichkeiten[1]
Bach, H.: Geistigbehindertenpädagogik, 15. Aufl.,
Berlin 1995, S. 9 ff
Teil I
Während
der Arzt durch seine spezielle Aufgabenstellung genötigt ist, das Gebrechen,
das Symptom ins Auge zu fassen, führt den Erzieher das faszinierte Blicken auf
die Behinderung zu einer ungerechtfertigten und unzweckmäßigen Einschränkung
seiner Initiative. Wer im Bereich der Erziehung seinen Blick vorwiegend auf die
Grenze richtet, gleicht einem Menschen, der in einem Lande die
Freizügigkeit, die Möglichkeit des Wanderns und Entdeckens, des Eroberns und
Durchforschens übersieht, weil er sich ständig auf die Grenze konzentriert,
dauernd nur ihre Einengung und den Mangel an Bewegung spürt, die ihm hier
gesetzt sind, und dabei versäumt, sich nach der Seite hin umzuwenden, wo Grenze
vorerst noch gar nicht abzusehen ist.
Während sich die medizinische Diagnose nun in der Regel
auf die Erfassung der Gebrechen konzentriert, muß der Heilpädagoge seinen Blick
gerade auf die Unversehrtheiten richten, und während die ärztliche Prognose die
Möglichkeiten einer Heilung oder Besserung der speziellen Schädigung erwägt und
die Grenzen dieses therapeutischen Prozesses absteckt, befaßt sich die
heilpädagogische Fragestellung akzentuiert mit den offenstehenden Möglichkeiten
für das Erziehungsgeschehen in ihrer ganzen Breite.
Die heilpädagogische Sichtweise ist also
gleichsam das Positiv zu dem Negativ der ärztlichen Aussage. So
unerläßlich letztere auch für die heilpädagogischen Überlegungen ist, so
bedenklich ist es jedoch, sie dergestalt mißzuverstehen, daß man sie für den
geeigneten oder gar einzigen Ausgangspunkt der Erziehungsarbeit hält. Das führt
— wie die Erfahrung zeigt — nur zu leicht zu einer pädagogischen Resignation,
zu einer Ersetzung fruchtbarer erzieherischer Bemühungen durch rein
pflegerisch-konservierende Bemühungen.
Gerade für den Erzieher des geistig behinderten Kindes
gilt es, die medizinische Aussage nicht für eine pädagogische zu halten, Die
Absteckung des ärztlich Möglichen ist etwas anderes als die Ermittlung des
erzieherisch Möglichen und Anzustrebenden. Hier stellt
sich für den Heilpädagogen stets eine eigenständige Aufgabe, die ihm der Arzt
nicht abnehmen kann.. Zu ihrer Erfüllung bedarf es zunächst der Hinblicknahme
auf die Behinderten unter z. T. ganz anderen Aspekten und unter
Berücksichtigung von Persönlichkeitsbereichen, deren Erfassung für die
medizinische Betrachtungsweise im allgemeinen weitgehend am Rande liegt.
Die Aufmerksamkeit des Erziehers darf keineswegs auf
die Ermittlung des bloßen Erscheinungsbildes beschränkt bleiben; sie muß
vielmehr auf die Erfassung des seelischen Gesamts unter besonderer
Berücksichtigung der trotz vorliegender Behinderung offengebliebenen
Möglichkeiten ausgedehnt werden.
Darum ist die vereinfachende Redeweise von dem
,,Behinderten” insofern nur z. T. treffend, als der Behinderte nie nur
Behinderter ist. Er ist gerade im Hinblick auf die nicht
behinderten Bereiche seines Menschseins von Seiten des Erziehers zu sehen und
anzusprechen.
Mit dieser
entscheidenden Wendung der Blickrichtung kommt überhaupt erst das
erzieherische Bedeutsame ins Auge, d. h. all jene Erziehbarkeitsreste
und -reserven, die z. B. im Bereich des Emotionalen und des
konkret vollziehenden Denkens liegen und in der üblichen Erziehung nur
ansatzweise ausgeschöpft werden, für den Behinderten aber von fundamentaler
Bedeutung sind.
Allerdings erweisen
sich Maß und Art der Erziehbarkeit des Behinderten in der Regel erst im
praktischen Erziehungsversuch, im ernsthaften, unbeirrbaren
erzieherischen Engagement, höchstens ansatzweise dagegen in der diagnostischen
Situation.
Werden dergestalt die
offenstehenden Möglichkeiten aufgespürt, ergibt sich zumeist eine
Erziehbarkeit, die viel weniger durch ihre Eingeschränktheit als durch ihre Unregelhaftigkeit
gekennzeichnet ist.
Faßt man das geistig
behinderte Kind nämlich unter Absehung von seiner speziellen Symptomatik unter
dem genannten Aspekt ins Auge, so beeindruckt häufig eine erstaunliche Fülle
oft übersehener Erscheinungen:
Man sieht z. B. eine
starke Motorik, einen Hang zur Bewegung, zur Expansion, eine gewisse
Lebhaftigkeit, die Freude alles anzufassen, zu untersuchen, zu betasten,
bestimmte Bedürfnisse und Wünsche, die sich zeigen oder vorgetragen werden,
unverstellte Affekte, eine Direktheit des Zugehens auf Menschen und Sachen. Man
sieht ganz bestimmte Dinge, die dem Behinderten Spaß machen, seine Freude am
Rhythmus, am Spiel, am Rollenspiel, am Hineingehen etwa in die Rolle eines
Tieres, eines Häschens, oder einer Märchengestalt, die Neigung zur Nachahmung
der Erwachsenen, indem Mutti- oder Vati-Sein gespielt wird. Man sieht eine
rührende Hilfsbereitschaft, die zur Hand gehen möchte, die gleichsam nach
Aufgaben fragt, und zugleich eine große Anhänglichkeit, ein
Am-Schürzenzipfel-Hängen. Man sieht daneben auch die Länge des Spannungsbogens
im Durchhalten von Aufgaben und Belastungen.
Vergegenwärtigt man
sich diese Züge des geistig behinderten Kindes, d. h. seine sozialen Verhaltensweisen, den Grad seiner
Selbständigkeit und Orientierung in Zeit und Raum, Art und Maß der
Aufmerksamkeit, Durchhalte- und Leistungsfähigkeit, der Körperbeherrschung, der
Darstellungs- und Sprachtüchtigkeit, des Gegenstands-, Regel- und
Zeichenverständnisses, der Interessen, der gefühlsmäßigen Differenziertheit und
wertbezogenen Verhaltenssteuerung, ohne sich von Lebensalter und besonderen
Symptomen ablenken zu lassen, dann drängt sich der Vergleich auf zwischen
diesen Lebensformen und dem Verhalten eines nicht behinderten Kindes in der
Ein-, Anderthalb-, Zwei- oder Dreijährigkeit.
Gegenüber einem
derartigen Vergleich erhebt sich nun aber der Einwand, daß er das Anderssein
des geistig behinderten Kindes übersehen machen würde. Dagegen ist jedoch zu
fragen, ob ohne einen solchen Vergleich das Sosein
des behinderten Kindes überhaupt sinnvoll zu erfassen ist und ob sich hinter
der bloß beschreibenden Feststellung des Anderssein
nicht im Grunde nur die unfruchtbar distanzierende Konstatierung des Fremdseins verbirgt.
Man kann doch erst
wirklich verstehen — und Verstehen ist die Voraussetzung für ernsthafte
erzieherische Hilfe —, wenn ähnliche, selbst erlebte Zustände mobilisiert
werden, wenn man also in sich wachzurufen versucht, wie einem zumute war, was
einen bewegte, was man begehrte, was man wünschte, was einen erfreute, was
einen traurig machte, kurz: was einem sinnvoll war in einer wenigstens
annähernd vergleichbaren Situation. Wir können uns bezeichnenderweise noch sehr
gut einfühlen, wenn wir tatsächlich anderthalb-, zwei- oder dreijährige Kinder
vor uns haben.
Von hier aus also
besteht ein Zugang zum Verständnis des geistig behinderten Kindes, in der
bloßen Konstatierung des Andersseins aber nicht, sondern vielmehr die
Verführung zu der Auffassung, es handele sich bei dem Behinderten einfach um
,,eine andere Rasse”.
Wer sich in dieser
Richtung bewegt, kann den Anderen nur noch behandeln, aber ihn nicht mehr
betreuen. Er kann ihn vielleicht handhaben, technisch mit ihm umgehen, aber
nicht den erforderlichen menschlichen Kontakt zu ihm aufnehmen. Er kann
Techniker sein — aber nicht Erzieher.
Darum ist der genannte und dem sorgfältigen
Beobachter sich aufdrängende Vergleich, die Inbezugsetzung des
geistig behinderten Kindes zum Anderthalb-, Zwei- oder Dreijährigen nicht
nur für Haltung und Verhalten des Erziehers sondern auch für die Beratung der
Eltern außerordentlich wichtig; denn in dem Sicheinfühlen unter Wachrufung
selbsterlebter Zustände finden wir mit ihnen einen Schlüssel zu
erzieherisch-fruchtbarem Verständnis des geistig behinderten Kindes.
Neben der Eröffnung eines sinnvollen emotionalen
Zuganges zum geistig behinderten Kinde über das Sicheinfühlen erschließt
das Inbezugsetzen der seelisch-geistigen Situation des geistig behinderten
Kindes zu frühkindlichen Entwicklungsstufen geistig nicht behinderter Kinder
vor allem eine positive Einstellung gegenüber den
Verhaltensweisen und Möglichkeiten des behinderten Kindes.
Allerdings ergibt sich hierbei eine gewisse
Anfangsschwierigkeit wegen der Körpergröße und des tatsächlichen Lebensalters
des Behinderten.
Beides ist dazu angetan, die Einstellung auf das
vorliegende seelisch-geistige Entwicklungsalter zu erschweren.
Wenn man jedoch von der Behinderung, von dem
Mißverhältnis zwischen Lebensalter bzw. Körpergröße und Entwicklungsalter
abzusehen gelernt hat, entdeckt man allmählich ein volles Leben mit
hundertfältigen Möglichkeiten, Fähigkeiten, Freuden, Bedürfnissen,
Bereitschaften usw.
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Teil II
So findet man oft eine naive Lernbereitschaft, die
allerdings scheinbar wenig zu tun hat mit jener, die dem Lebensalter und der
Körpergröße der Kinder entspräche, eine Lernbereitschaft, die nicht auf Lesen,
Schreiben und Rechnen hin orientiert, sondern eben der genannten frühkindlichen
Entwicklungsphase angemessen ist. Blickt man dagegen nur auf die Behinderung
und stellt sich zu sehr auf das Lebensalter ein, dann bleibt Entscheidendes
völlig verborgen; dann sieht man immer nur das, was nicht möglich ist, statt
die vorhandene Lernbereitschaft in der Form der Sehnsucht, etwa groß zu werden
den wie Mutter oder Vater und praktisch-nachahmend die Welt zu erfassen, als
fundamentalen Impuls aufzugreifen.
Das
Entscheidende bei diesen Entdeckungen ist ihre positive Akzentuiertheit.
Auf einmal freut man sich, daß das behinderte Kind (gemäß seinem
Entwicklungsalter) bereits zwei oder gar fünf Minuten bei einer Sache bleiben kann
und bedauert es nicht mehr, daß es sich noch nicht einmal eine Viertelstunde
mit einem Spielzeug beschäftigt (wie man es hinsichtlich seines Lebensalters
erwarten würde). Oder man wertet die Neugier, das Herumfingern an den Dingen
als entwicklungsgemäße Lernfaktoren, statt sie als Unarten oder gar als
Ausdruck eines zum ,,Krankheitsbilde” gehörigen "Erethismus"
(Gereiztheit, krankhaft gesteigerte Erregbarkeit) zu sehen und ebenso
verzweifelt wie erfolglos nach Lernimpulsen zu fahnden, welche bei dem vorliegenden
Entwicklungsalter keineswegs zu erwarten sind, sondern allenfalls als
Scheinhaltung anerzogen werden können.
Durch
die ,,gefühlsmäßige Umstellung”, die in der Wendung der Blickrichtung
ins Positive liegt, wird aus Bekümmerung und Resignation Verständnis und
Freude, und gleichsam von selbst pflegt sich in dieser Haltung das
einzustellen, was man als pädagogischen Einfallsreichtum bezeichnen
kann.
Schließlich
liegt in dem hier nahegelegten Vergleich zwischen der seelisch-geistigen
Situation des geistig behinderten Kindes und frühkindlichen Entwicklungsstufen
nicht behinderter Kinder ein ganz spezieller Vorzug in didaktischer
Richtung. In dem Umfange nämlich, in welchem der Vergleich zutrifft,
eröffnet sich ein wohlausgebildeter pädagogischer Bereich mit einer Fülle von
Erfahrungen, der zu einem guten Teil auch für die Erziehung des
Geistigbehinderten nutzbar gemacht werden kann — nämlich die Kleinkinder- oder
Kindergartenpädagogik.
So
bleibt es dem Erzieher über weite Strecken erspart, mangels jedweder
Orientierungshilfen zu einer bloßen Probierpädagogik seine Zuflucht nehmen zu
müssen. Zumindest hat er eine Arbeitshypothese und einen Fundus an
Zielvorstellungen, Methoden und Mitteln, derer er sich besonnen bedienen kann.
Nun
wäre es allerdings töricht, den Vergleich der behinderten Kinder mit den
Anderthalb-, Zwei- oder Dreijährigen zu überziehen. Sie sind in mancherlei
Hinsicht von den nicht geistig behinderten Kindern dieses Lebensalters
unterschieden.
Worin
besteht nun neben den bereits genannten Fakten des objektiven Lebensalters und
der Körpergröße der Unterschied zwischen beispielsweise dem achtjährigen
behinderten Kinde mit einem Entwicklungsalter von zwei Jahren und dem
tatsächlich zweijährigen nicht geistig behinderten Kinde?
Hier muß zunächst
daran erinnert werden, daß es sehr viele verschiedene Formen
und Grade der geistigen Behinderung gibt. Wenn wir also dem Vorschlag der
Einstellung auf ein kleinkindliches Entwicklungsalter folgen, gilt es hierbei
stets mit einer Streubreite von der Anderthalbjährigkeit bis zur Drei-, Vier-
oder in einigen Fällen sogar der Fünf, Sechs-, Sieben- und Achtjährigkeit zu
rechnen.
Sodann ist
auf jene oft bezeichnenden partiellen Entwicklungsspitzen hinzuweisen,
die mitunter weit hinausragen über die seelische Gesamtentwicklung z. B. der
Zweijährigkeit. Zum Teil handelt es sich dabei um Erlebnismöglichkeiten,
Fähigkeiten, Kenntnisse, die sich mit dem Lebensalter mehr oder minder normal
entwickelt haben; zum Teil sind es auch Rückstände nach einem Zurückfallen des
gesamtseelisdien Status z. B. nach einer Hirnhautentzündung. So finden sich
gelegentlich verschiedene kleine oder größere Lebenserfahrungen, die durch
jahrelang immer wieder auftauchende Erlebnisse in bestimmten
Familiensituationen oder durch besondere, stark beeindruckende Ereignisse
bedingt gelegentlich das geistig behinderte Kind in gewissen Zügen seines
Wesens nahezu altersmäßig erscheinen lassen und den Eindruck z. B. der
Zwei-jährigkeit verwischen.
Andererseits
können gerade bei Kindern, die auf Grund bestimmter Erkrankungen Rückschritte
gemacht haben, Erinnerungen festgestellt werden, die in ihrem Gehalt weit über
das hinausgehen, was man in der Zweijährigkeit anzutreffen pflegt. So imponiert
mitunter ein erstaunliches, wenn auch ausschnitthaftes Verständnis für ganz
bestimmte Sachverhalte.
Neben den
genannten Entwicklungsspitzen unterscheiden sich geistig behinderte Kinder
ferner häufig durch ein plötzliches Abschalten, das andere Züge
trägt als die normalen Ermüdungserscheinungen etwa eines Zweijährigen. Es ist
vielmehr ein Dösen, ein Abgespanntsein, das nicht alsbald durch eine
neue Beschäftigung abgelöst wird.
Des weiteren ist eine geringe
Spontaneität und eine Verlangsamung der einzelnen
psychischen und physischen Abläufe festzustellen.
Ferner gilt
es zu sehen, daß es sich bei dem jeweils vorliegenden Entwicklungsalter des
geistig behinderten Kindes nicht um eine Stufe einer Skala handelt, die — wenn
auch langsamer — schließlich doch voll bewältigt wird, sondern daß neben einer
wesentlichen Verlangsamung auch eine relative Begrenztheit der
Gesamtentwicklung zu konstatieren ist.
Vor allem
aber besteht ein Mißverhältnis zwischen dem Können und der Umwelterwartung,
d.h. dem, was Außenstehende von dem Kinde erwarten. Um dies zu verdeutlichen,
bedarf es einer Vorerläuterung.
Wir haben in der Regel ein bestimmtes Schema für
Anforderungen und Erwartungen, mit denen wir an andere Menschen herantreten.
Wir schätzen, ohne daß es uns bewußt wird, ihr Alter, ihre geistige Wendigkeit
ab und sprechen sie demgemäß an. Wir projizieren unser Bild, das wir uns von
einem Menschen entsprechender Art machen, auf ihn — und sind dann allerdings
gelegentlich enttäuscht, wenn er nicht diesen unseren Erwartungen entspricht.
Er erscheint uns dann als uneinsichtig, als dumm, als gewöhnlich o. ä. Im
Prinzip aber sind wir trotz all solcher Enttäuschungen darauf angewiesen, z. B.
mit dem Schaffner in der Straßenbahn zu sprechen, als sei er ein vernünftiger
Mensch, der von seinem Beruf das Notwendige verstünde. Wir kalkulieren gar
nicht ein, daß wir den Menschen, mit dem wir es zu tun haben, gar nicht kennen.
Wir unterstellen ihn dem Schema.
Ein
ähnliches Schema haben wir nun auch in unserem Umgang mit den
Kindern bestimmter Altersstufen. Wir werden also etwa auf der Straße einen
Zweijährigen anders ansprechen als einen Vierjährigen. Einen Dreijährigen
trösten wir anders als einen Fünfjährigen. Für den Zehn- oder Vierzehnjährigen
haben wir wieder ein anderes "Schema". Wir denken nicht darüber nach,
wir verhalten uns einfach danach. Wir sind darauf angewiesen. In unserem
Verhalten liegt also eine bestimmte Regelhaftigkeit auf Grund der Erfahrung,
die uns zur Verfügung steht. Es wird gegenüber Kindern weitgehend ausgelöst
durch die Orientierung an der Körpergröße.
Dem
geistig behinderten Kinde tritt nun die Umwelt, vor allem der Außenstehende,
der das Kind nicht näher kennt, mit eben demselben, weitgehend an der
Körpergröße orientierten Verhalten und Anspruch gegenüber. So z. B. in der
Straßenbahn: dort werden die geistig behinderten Kinder von den Fahrgästen
meist behandelt, als seien sie ihrer Körpergröße entsprechend auch geistig
entwickelt; man regt sich über ihr Unverständnis auf, empört
sich, fordert Strafen usw. Das ist ganz verständlich, und man sollte nicht
immer nur Vorwürfe über die verständnislose Umwelt erheben; denn es ist doch
ohne Frage nicht ganz leicht, hier zu unterscheiden und das außerordentliche
Gefälle von einer körperlichen Entwicklung z. B. des Vierzehn-jährigen mit der
vorliegenden Entwicklung des seelisch-geistigen Fünfjährigkeit zu erfassen.
In
vorliegendem Zusammenhang handelt es sich nun darum, zu erkennen, daß diese
geschilderte Spannung zwischen Umweltanforderung und Können grundsätzlich auf
jedes geistig behinderte Kind zukommt. Das läßt sich nicht verhindern. Hier
entsteht also zwangsläufig eine innere Spannung, die jedenfalls bei weitem
nicht in diesem Maße beim nicht geistig behinderten Fünfjährigen auftritt.
Diese
Spannung nun scheint — neben anderen, aus dem Organischen herrührenden Anlässen
— die hervorhebenswerte Ursache für eine gewisse Bedrücktheit und
Verstimmtheit zu sein, die sich bei vielen geistig behinderten Kindern
beobachten läßt
Zu den bisher
genannten, mehr oder minder zwangsläufig aus der Gesamtverfassung
resultierenden Abweichungen der inneren Situation des geistig behinderten
Kindes von der Lage des nicht behinderten Kleinkindes finden sich nun aber mit
gewisser Regelmäßigkeit noch andere charakteristische Züge, die ausdrücklicher
Beachtung bedürfen. Sie sind auf bestimmte Erziehungseinflüsse zurückzuführen,
die gleichsam als Antwort auf die vorliegende geistige Behinderung einsetzen.
Sie sollen als Erzogenheit des
geistig behinderten Kindes wegen ihrer großen Bedeutung in einem besonderen
Kapitel erörtert werden.
Hinsichtlich der Frage nach der Erziehbarkeit sei
hier jedoch bereits vermerkt, daß durch unzweckmäßige Erziehung —
und sei sie noch so wohlmeinend erfolgt — nicht selten das natürliche
Lernbedürfnis, das in der Regel bei dem vorliegenden Entwicklungsalter
anzutreffen ist, in mehr oder minder starkem Maße verschüttet sein kann, so daß
der Eindruck einer prinzipiell noch geringeren Erziehbarkeit entsteht.
In der nämlichen Richtung wirkt sich natürlich auch
die geschilderte Spannung zwischen Können und Umweltforderung beim geistig
behinderten Kinde aus.
Zusammenfassend läßt sich also
feststellen, daß die Erziehbarkeit des geistig behinderten Kindes ungeachtet
seines wirklichen Lebensalters und seiner körperlichen Entwicklung in großen
Zügen etwa den Möglichkeiten vergleichbar ist, die dem geistig nicht
behinderten Kleinkinde, dem Ein- bis Sechs- oder Siebenjährigen, in
erzieherischer Hinsicht offenstehen.
Wenn überhaupt eine gewisse Konzeption zu einer
erzieherischen Förderung des geistig behinderten Kindes sinnvoll erscheint,
dann ist es die der planmäßigen Hilfe zu möglichst umfänglicher Gewinnung
derjenigen seelich-geistigen Entwicklungsstufen, die sich an die jeweils
erreichten anschließen.
Jedenfalls verführt eine derartige Richtlinie
wesentlich weniger zu einer ungezielten Allerweltsbetreuung des behinderten
Kindes, die sich oft unter der bedenklich wenig sagenden Maxime verbirgt, jedes
geistig behinderte Kind sei nun einmal anders und bedürfe demgemäß einer ganz
individuellen Erziehung.
Durch eine vorsichtige Orientierung in dieser
Richtung eröffnet sich dem Erzieher des geistig behinderten Kindes die
entscheidende Möglichkeit, unter Wachrufung eigener Kindheitszustände einfühlend
zu verstehen, die Fülle positiver Züge und offengebliebener
Möglichkeiten zu sehen, von einseitiger Faszinierung durch die geistige
Behinderung frei zu werden, die aus der Unzufriedenheit über Rückständigkeiten
resultierende Abwertung und Überforderung zu überwinden und zu einer lebendigen
Beziehung zum Kinde zu kommen.
Darüber hinaus erschließt sich auf Grund dieser Sicht
jene Unzahl erzieherischer Einfälle, Verhaltensweisen, Spiele,
Entwicklungsanreize, welche in der Pädagogik für den Umgang mit der genannten
frühkindlichen Entwicklungsstufe zusammengetragen sind.
Das jeweils
zu Grunde zu legende frühkindliche seelisch-geistige Entwicklungsalter ist
jedoch nicht harmonisch wie beim geistig nicht behinderten zwei- oder dreijährigen
Kinde. Es finden sich vielmehr gelegentlich bestimmte partielle Fähigkeiten,
Verständnis- und Erlebnismöglichkeiten und Fertigkeiten, die über die
seelisch-geistige Gesamtentwicklung hinausragen und mitunter nahezu dem
tatsächlichen Lebensalter entsprechen. Derartige Gegebenheiten bedürfen
besonderer Pflege, sollten jedoch nicht zu der übertriebenen Hoffnung
verleiten, daß die Gesamtentwicklung diesen Spitzen durch forcierte
Anstrengungen schließlich doch bald folgen werde.
Die
erzieherischen Angebote und Erwartungen sollten jedenfalls vorwiegend an der
Stufe der seelisch-geistigen Gesamtentwicklung orientiert sein. So notwendig es
aber ist, die besonderen Bedürfnisse dieser Entwicklungsstufe hinreichend zu
berücksichtigen, so unangebracht wäre es, den 6-, 10- oder 14- jährigen wie
einen Zweijährigen zu ,,behandeln". Man tut vielmehr gut daran, sowohl das
spielende Arbeiten gebührend ernst zu nehmen und den besonderen Interessen in
angemessener Weise Rechnung zu tragen wie auch den Umgangston weit möglich auf
das Lebensalter abzustellen, um durch diesen Respekt ein entsprechendes
Verhalten hervorzurufen.
Neben den
genannten Entwicklungsspitzen bedürfen bestimmte Beeinträchtigungen der
inneren Gesamtsituation besonderer Aufmerksamkeit. Hier sind — wenn man einmal
von besonderen zentralbedingten Störungen und Ausfällen absieht — vor allem die
mitunter stark eingeschränkte Spontaneität zu nennen und die allgemeine
Verlangsamung der psychischen und physischen Abläufe sowie die
bezeichnenden Spannungen zwischen dem Können des geistig
behinderten Kindes und den Forderungen, welche
ihm die Umwelt tagtäglich unbilligerweise stellt und damit zu einer gewissen
Entmutigung‘ Bedrücktheit und Traurigkeit beiträgt.
Hier gilt es insbesondere
Rücksicht zu nehmen, Verständnis aufzubringen, Wege zu weisen und womöglich
bestimmte Umwelteinstellungen zu korrigieren.
Hinsichtlich der partiellen Fähigkeiten und bestimmter
Beeinträchtigungen als Abweichungen von dem jeweils vorliegenden ungefähren
seelisch-geistigen Entwicklungsalter bedarf es also stets intensiver
individueller Sonderbemühungen.
Hier stellt
sich die Frage, ob sich dadurch nicht noch andere Gruppierungsgesichtspunkte
ergeben. Nun kann es sich im heilpädagogischen Bereiche nur um Gruppen handeln,
die auf Grund bestimmter, für den betreffenden Personenkreis bedeutsamer
Erziehungsaufgaben gebildet werden. Äußere Merkmale wie mongoloide Züge usw.
sind hier also ebenso zweitrangig wie es Längenwachstum und Blutgruppenzugehörigkeit
wären, und auch die Ursachen der Behinderungen besagen hier meist recht wenig;
denn die sich angesichts zweier Kinder mit ganz unterschiedlichem
Erscheinungsbild und verschiedener Behinderungsursache stellenden
Erziehungsaufgaben sind mitunter wesentlich verwandter als die Aufgaben, die
sich für Kinder ergeben, die äußerlich und ursachenmäßig derselben Gruppe
zugehören.
Vorerst
erweist sich eine Gruppierung nach ungefähren seelisch-geistigen
Entwicklungsstufen (trotz individueller Abweichungen hinsichtlich besonderer
Einzelzüge) unter pädagogischem Aspekt als am besten begründet, sofern die
Aufgabe individueller Förderung hinsichtlich besonderer Fähigkeiten und
Beeinträchtigungen dabei gebührend beachtet und eine entsprechend modifizierte
Erwartenshaltung eingenommen wird.
Wenn sich nun
als pädagogischer Hauprgruppierungsgesichtspunkt geistig behinderter Kinder das
ungefähre Entwicklungsalter anbietet, so bedarf dabei das "Ungefähr"
besonderer Beachtung; denn weder sind die einzelnen frühkindlichen Entwicklungsphasen
oder -stufen präzis voneinander abzugrenzen, noch läßt sich gar die spezielle
seelisch-geistige Situation des geistig behinderten Kindes so genau erfassen,
daß sich etwa auf den Monat genau seine Position angeben ließe. Präzision
dieser Art ist hier Ausdruck der Unwissenschaftlichkeit.
Angesichts
der etwa von A. Gesell in anregender Breite und Plastizität
geschilderten Entwicklungsstufen der frühen Kindheit wird ferner deutlich, daß
es sich um Gegebenheiten handelt, die z. T. nur bei ausführlichem und
intensivem Kontakt mit dem Kinde wahrzunehmen sind.
Damit ist
zugleich gesagt, daß sich Art und Maß der tatsächlich vorliegenden Erziehbarkeit
des geistig behinderten Kindes in aller Regel erst im praktischen
Erziehungsversuch, in ernsthaftem, unbeirrbarem
erzieherischen Engagement erweisen, höchstens ansatzweise dagegen in der
diagnostischen Situation oder gar auf Grund des bloßen Augenscheins.
Werden aber
die offenstehenden Möglichkeiten intensiv aufgespürt und geweckt, ergibt sich eine
Erziehbarkeit, die oft besser durch ihre Unregel haftigkeit
als durch ihre Eingeschränktheit zu kennzeichnen ist und die insofern als "praktische
Erziehbarkeit" (oder "praktische Bildbarkeit”)
charakterisierbar ist, als hier die Möglichkeiten des ,,anschaulich-vollziehenden”
Lernens gegenüber den ,,unanschaulich-begrifflichen” auf Dauer
entscheidend überwiegen. Praktische Erziehbarkeit ist Erziehbarkeit. Sie
ist unregelhafte, aber nicht minderwertige Erziehbarkeit.