BFS 2
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Allgemeines zum Begriff 'Behinderung'
Quelle: Bleidick, U.: u.a.:
Einführung in die Behindertenpädagogik Stuttgart 1992, 4. Aufl., S. 11 ff
Ein international weitgehend anerkanntes Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation zur Beschreibung von Behinderungen liegt seit dem Rehabiltation Codes Report (1957 - 1962) vor (letzte Fassung 1980)
Danach werden drei Dimensionen der Betrachtung unterschieden:
1.
2.
3. Benachteiligung (handicap) des Menschen
im körperlichen und psycho-sozialen Feld, in familiärer, beruflicher und
gesellschaftlicher Hinsicht aufgrund seiner Schädigung und Beeinträchtigung.
‚Schädigung’: Behinderung ist
in der Regel eine Folge einer Schädigung.
‘körperliche, seelische oder geistige Funktionen’: Die Behinderung kann, teilweise oder durchgängig
physische (körperliche) oder psychische (seelisch-geistige) Gebiete betreffen.
Wir sprechen von Funktionen, wenn wir damit sowohl von der Schädigung abhängige
Größen, als auch die Wirkungsweisen meinen.
‘unmittelbare Lebensverrichtungen oder Teilnahme am Leben der
Gesellschaft’: Behinderung hat eine
individuelle und eine soziale Seite. Persönliche Lebenserschwerungen liegen
etwa dann vor, wenn z. B. der Körperbehinderte sich durch die Einschränkung
seiner Bewegungsfähigkeit nicht frei bewegen kann und auf Hilfe angewiesen ist;
wenn ein Blinder sich optisch nicht orientieren kann; wenn der Gehörlose
akustische Signale nicht wahrnimmt und dadurch im Straßenverkehr gefährdet ist.
Ebenso folgenreich sind die Erschwerungen, die der Behinderte im sozialen Feld
erfährt und die seine Eingliederung in das öffentliche Leben, in die
Bildungsinstitutionen, in die Berufs- und Arbeitswelt und selbst in die Familie
erschweren.
‘beeinträchtigt’: Die Wahl
des Oberbegriffs Beeinträchtigung deutet an, dass der Begriff Beeinträchtigung
später weiter definiert werden muss, bzw. weiter differenziert werden muss.
Leichte und schwere Formen der Behinderung haben gemeinsam, dass sie alle
irgendwelche Beeinträchtigungen im individuellen und sozialen Feld nach sich
ziehen.
Der
Tatbestand der Behinderung ist in Wirklichkeit komplexer als der erste
definitorische Zugang ausdrückt. Behinderung ist fast immer die Folge einer
Schädigung, einer frühkindlichen Hirnschädigung etwa, einer angeborenen
Gliedmaßenfehlbildung, eines Ausfalls in Sinnesorganen usw.
Die
Schädigung kann im körperlich-biologischen, aber auch im seelisch-geistigen
Bereich aufgetreten sein. Im ersten Fall lässt sie sich leichter ursächlich
ausmachen und diagnostizieren..
Schädigungen
im emotionalen und kognitiven Bereich, wie z. B. eine massive frühkindliche
Vernachlässigung, (Stichwort Hospitalismus), die zu einer späteren
Verhaltensstörung führen können, sind demgegenüber selten eindeutig zu
bestimmen.
Eine
zugrundeliegende Schädigung ist beim letzten Beispiel anzunehmen, aber nicht
streng zu beweisen. Es wird dann von funktionellen Störungen gesprochen, um
auszudrücken, dass das Zusammenspiel der psychischen Kräfte gestört ist.
Diese
vorgenommene Aufteilung nach organischen und funktionellen Störungen ist
allerdings ein idealtypisches Konstrukt, das im konkreten diagnostischen Fall
nicht immer so anwendbar ist.
Behinderung
muss ferner als Prozessbegriff verstanden werden. Eine der wesentlichen
Aufgaben der Medizin, Pädagogik und Sozialhilfe besteht darin,
Beeinträchtigungen rechtzeitig zu erkennen und durch prophylaktische Maßnahmen
zu verhindern, dass aus einer drohenden Behinderung eine manifeste Behinderung
wird.
Behinderung
ist ein abstrakter Oberbegriff, der in seiner näheren Bestimmung weiter zu
differenzieren und zu konkretisieren ist:
nnach Schädigungsarten
nnach Gebieten des Behindertseins
nnach Schweregraden.
Die Schädigungsarten liefern
ein erstes Klassifikationssystem für Behinderungen. Die nachfolgend aufgeführte
Einteilung von Schädigungen stellt ein verbreitetes medizinisches Raster dar,
das auch für die Rehabilitationsgesetzgebung als einschlägig gilt.
Dieses
medizinische Modell hat erhebliche Nachteile für die Hilfszumessung bei
Behinderten.
Es
werden unterschieden:
nAnfallserkrankungen
nAltersgebrechlichkeiten
nGeisteskrankheiten (Psychosen)
nHörschädigungen
nIntelligenzschädigungen
nKörperbehinderungen
nLangfristige Erkrankungen
nSehschädigungen
nSprachbehinderungen
nVerhaltensstörungen
Hinweis: Behinderung muss von Krankheit
unterschieden werden,. In der Regel gilt Behinderung als ein Folgeleiden der
Erkrankung, als Postzustand nach durchlaufenem Krankheitsprozess. Jedoch sind
die Grenzen nicht starr zu ziehen.
Die Gebiete des Behindertseins
Die
Frage nach dem Schweregrad von Behinderung ist nicht so leicht zu beantworten.
Vielmehr lässt sich die Schwere des Behindertseins im Einzelfall nur in einem
differenzierten Koordinatensystem von vier sich überkreuzenden und bedingenden
Variablen darstellen:
Gebiete
des Behindertseins
Art der Behinderung
Ausmaß des Defektes
Subjektives Leiden
Unter
den Gebieten des Behindertseins erscheint es unmöglich, eine Rangabstufung nach
‘Schweregraden’
vorzunehmen.
Die
Frage stellt sich, wer mehr von
seiner Behinderung betroffen ist (Stichwort Individualität).
Beispiel:
Ein an den Rollstuhl gebundener, ‘objektiv’ schwer Behinderter kann mit seinem
Defekt u. U. fertig werden, und ein nur leicht körperlich Versehrter, der sich
am Bild des Unversehrten misst, kann in diesem sozialen Bezugssystem sein
‘Anderssein’ stärker empfinden und insofern ‘schwer behindert’ sein.
Die
subjektive Verarbeitung von Behinderung ist zweifellos eine ausschlaggebende
Größe. Nicht zuletzt kommt es darauf an wie
der Behinderte mit seiner Behinderung fertig wird.
Die
Erörterung von Schweregraden des Behindertseins führt auf ein Problem, das
grundsätzlicher Art ist.
Es gibt keine allgemein anerkannte Definition von Behinderung.
es ist auch nicht erwünscht, dass allgemeingültig, für alle Zeiten, festgelegt
werde, wer als behindert zu gelten hat und wer nicht.
Die
Tatbestände Behindertsein und Behinderung sind sozial vermittelt: Soziale
Normen, Konventionen und Standards bestimmen darüber, wer behindert ist. Der
Begriff selbst unterliegt einem handlungsgeleiteten Erkenntnisinteresse.
Darum
sind alle Aussagen darüber, wer gestört, behindert, beeinträchtigt, geschädigt
ist usw., relativ, von gesellschaftlichen Einstellungen und diagnostischen
Zuschreibungen abhängig.
Im
bisherigen Zusammenhang wurde das Kriterium der gesellschaftlichen Norm für
Behinderung als wirksam erkannt. Umgangssprachlich gilt zumal der schwer
Behinderte als ‘abnorm’ oder ‘anomal’.
Im
wesentlichen können zwei unterschiedliche Begriffe von Norm auseinandergehalten
werden:
n statistische Norm, die den am häufigsten vorkommenden
Bereich der Verteilung meint
n ideale Norm, die eine optimale individuelle oder im
sozialen Verband gegebene Zielgröße vorstellt.
Behinderung
wäre in diesem Sinn - nach der jeweils zu treffenden Übereinkunft des messenden
sozialen Bezugssystems - entweder: Abweichung vom Durchschnitt, genauer vom
regelhaft durchschnittlichen Unbehindertseins, oder Personen, die dem Idealbild
des Intakten, Unversehrten, Schönen am wenigsten nahe kommen.
Diese
Wertmaßstäbe sind historisch und gesellschaftlich bedingt, wandelbar und der
Beeinflussung zugänglich.
Das
Behindertsein hängt somit entscheidend davon ab, welche gesellschaftlichen
Erwartungen gegenüber Menschen mit abweichendem Verhalten erhoben und welche
Hilfen ihnen gegeben werden, um diesen Erwartungen entsprechen zu können.
Unter
sozialpolitischen Aspekten stellt sich demnach die Forderung, die Zahl der
Behinderten ständig zu verringern. (Umdefinitionen, dadurch
Kostenersparnis) [1]
[1]vgl. Bleidick, U. u.a.,: Einführung in die
Behindertenpädagogik I, Stuttgart 1992,
4.
Aufl. S. 11 ff