Nur
für den internen Gebrauch als Unterrichtsmittel in EW
Dietrich
Eggert
Abschied von der
Klassifikation von Menschen mit geistiger Behinderung
Behinderte in Familie, Schule
und Gesellschaft, 19. Jahrgang, Heft 1/1996, Seite 43 - 64
1.
Zielsetzungen und Einleitung
Mit dem vorliegenden Text
soll der Versuch unternommen werden, einen Wandel in den Vorstellungen zu
beschreiben, der sich auf die Diagnose von Menschen mit einer "geistigen
Behinderung" bezieht. Das Fazit wird später sein, daß Etikettierungen und
Klassifikationen nicht mehr angemessen sind, um Menschen in ihrer
Individualität beschreiben zu können.
Die folgenden Diagnosen
entstammen realen Berichten:
Auf die Krankheit
Schwachsinn hat sich Schizophrenie aufgepfropft. Es zeigt sich ein
Defektsyndrom, das sich in der flachen Heiterkeit und auch in der
Kontaktschwäche äußert. Eine Unterbringung in einer Anstalt scheint
erforderlich. Diagnostisch handelt es
sich um eine Intelligenzminderung an der Grenze zwischen Imbezilität und
Idiotie. Gleichzeitig besteht eine Gehbehinderung. Diagnostisch handelt es
sich um eine Intelligenzminderung vom Grad einer schweren Imbezillität im
Rahmen eines Morbus Langdon-Down. Die Sprache ist sehr verwaschen und schwer
zu verstehen. Diagnostisch handelt es
sich um eine Debilität nach frühkindlicher Hirnschädigung mit erethischen
Verhaltensweisen. Z. T. wird an den Fragen vorbeigeredet. Deutliche Logorrhoe.
Aggressionstendenzen. Anstaltunterbringung auf Dauer. |
Diese Beispiele gehören nun
keineswegs zu Akten der 50er Jahre, sondern entstammen den Akten einer
Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung aus dem Jahre 1995 (!); sie finden heute Verwendung, um Menschen als
"oligophren" zu beschreiben. Die veralteten Begriffe sind dabei nicht
nur ein Problem eines altmodischen Sprachgebrauchs. In diesen psychiatrischen
Diagnosen findet sich eine Sprachgebung, mit deren Wurzeln wir uns später
beschäftigen wollen. Soviel vorweg: eine solche Beschreibungsweise erscheint
wenig informativ und unangemessen.
Es geht mir bei den
folgenden Betrachtungen darum, den sogenannten Paradigmenwechsel in der
Diagnose der geistigen Behinderung zu beschreiben. In den letzten zwanzig
Jahren haben sich tiefgreifende Veränderungen im Denken über das Wesen der
geistigen Behinderung ergeben, die sowohl die theoretische Reflexion als auch
das praktische Handeln mit Menschen verändert haben.
International ist De-Institutionalisierung
oder Integration oder das gemeinsame Leben behinderter und nichtbehinderter
Menschen zu einem machtvollen Programm geworden, das sich in Weltorganisationen
in internationalen Erklärungen (Salamanca-Erklärung[1] der
UNESCO von 1994 und Ottawa-Erklärung der WHO von 1986) findet.
Später möchte ich meine
Betrachtung auf diagnostische Handlungsstrategien und Methoden ausweiten und
die Konsequenzen des Paradigmenwandels für die Diagnostik zu beschreiben
versuchen. Welche diagnostischen Ansätze scheinen den Veränderungen angemessen?
Welche neuen Entwicklungen sind denkbar? Zu diesen Veränderungen gehören die
Folgen des amerikanischen Anti-Etikettierungs-Ansatzes, dem es u.a. um eine
neue Bewertung der Sinnhaftigkeit von Klassifikationen für die Lebenssituation
von Menschen mit geistiger Behinderung generell ging. Wichtig ist mir in diesem
Zusammenhang weiter auch eine Neubetrachtung der für die Diagnose und
Klassifikation von Menschen mit geistiger Behinderung verwendeten Methoden, die
sich bislang vorwiegend auf Theorien der klassischen Testkonstruktion bezogen
und normativ vorgingen. Hier hat sich ein konsequenter Wandel von den
quantitativen und normativen Methoden zur qualitativen Einzelfallbeschreibung
ergeben. Hier soll mein Plädoyer sein, auf die Anwendung derartiger
Testverfahren bei Menschen mit geistiger Behinderung zu verzichten.
Zur Einleitung möchte ich
kurz versuchen, einige Begriffe zu definieren, die im Text häufig verwendet
werden:
Grundbegriffe Geistige Behinderung
(international: mental retardation, mental handicap) Sammelbegriff für sehr
unterschiedliche Formen kognitiver und sozialer Kompetenz-Probleme von
Menschen mit Entwicklungsstörungen unterschiedlicher Ursache. Integration: Oberbegriff für alle Bemühungen für das
gemeinsame Leben von behinderten und nichtbehinderten Menschen Gegensatz:
Segregation oder Aussonderung. Behinderte bevorzugen den Begriff der
Emanzipation. Nicht-Aussonderung: Vor allem von Elternvereinigungen bevorzugter
Begriff für gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder in
Deutschland. Inklusive Erziehung: neuer internationaler Begriff für gemeinsamen
Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder in der Schule. Normative Diagnostik: Bewertung und Einordnung nach quantitativen
Testwerten. Klassische Testtheorie: Basistheorie der Intelligenzmessung. Qualitative Diagnostik: beschreibend und verstehend, individuell
vorgehend. Special needs: besondere Bedürfnisse von Kindern in der Schule. Im
Deutschen: besonderer, individueller oder sonderpädagogischer Förderbedarf. Normalisierung: Ziel der Integration. Kann auch mit
"alltägliches gemeinsames Leben" umschrieben werden. Mainstreaming: gemeinsamer Unterricht "im Hauptstrom"
der allgemeinen Schule unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse
einzelner Schüler in den USA. Anti-Labelling-Approach
= Anti Etikettierungs Kampagne (Mercer, 1973): Bewegung gegen die (diskriminierende) Verwendung
von Klassifikationen und typologisierenden Beschreibungen. LRE = Least restrictive
environment: am wenigsten
einschränkende Lernumwelt; Ziel der Diagnose in den USA. Im Deutschen als
"am besten geeigneter Lernort" leicht mißverstanden. IEP = Individueller
Entwicklungsplan: die Aufstellung
individualisierter Förder- und Entwicklungspläne für Kinder mit besonderen
Förderbedürfnissen (Sepcial needs) in der allgemeinen Schule. |
Schon früh im 19.
Jahrhundert begann sich für den "Blödsinn" oder die
"Geistesschwäche" der wissenschaftliche Begriff der Oligophrenie
durchzusetzen, der um die Jahrhundertwende dann mit "Schwachsinn"
gleichgesetzt wurde.
Oligophrenie bezeichnet angeborene
oder frühzeitig erworbene Intelligenzdefekte und wird von der Demenz, den
später erworbenen Intelligenzstörungen unterschieden. Idiotie - schwere
Oligophrenie Imbezillität - mittlere
Oligophrenie Debilität - leichte
Oligophrenie |
Das Bedürfnis nach einer
Klassifikation von Menschen nach Krankheitsbildern wie der Oligophrenie ist
alt. Schon in der Kontroverse der Ärzte Itard und Pinel um die Erziehung von
Victor, dem "Wildkind von Aveyron" um die Wende des 18. zum 19.
Jahrhundert, spielte die Frage der Einordnung des Erscheinungsbildes eine
entscheidende Rolle. Pinel (1745-1826) war der Ansicht, daß es sich bei Victor
um eine unheilbare Idiotie handele ("unheilbarer Idiot, tieferstehend als
Haustiere"), während der jüngere Itard (Jean Marc Gaspard Itard,1774-1838)
davon ausging, daß Victors Verhalten durch pädagogische Vernachlässigung und
Isolierung entstanden sei und daß er durch angepaßte Methoden erzogen und
gebildet werden könne. Dies ist übrigens bis in unsere Tage hinein der Kern der
in der Behindertenpädagogik und Rehabilitationsmedizin vertretenen
unterschiedlichen Auffassungen, ob nämlich das Phänomen einen konstanten Defekt
darstellt oder durch Entwicklung und Erziehung veränderbar ist (nach Eggert,
1990).
Esquirol, 1816, kannte 5 Krankheitsbilder:
1. die Melancholie, 2. die Monomanie, 3. die Manie, 4. die Verwirrtheit und 5.
die Idiotie. Er sprach aber bereits damals davon, daß diese Beschreibungen
keineswegs einheitlich verstanden würden. Unter Idiotie verstand er übrigens
eine "chronische Gehirnaffection ..., die sich durch Störungen der
Sensibilität, der Verstandestätigkeit und des Willens charachterisiert."
Mangelnde Steuerungsfähigkeit der Emotionen, herabgesetzte Verstandestätigkeit
und Unerziehbarkeit sind das Merkmal der Idiotie, die seiner Ansicht nach nicht
heilbar sei (Esquirol, 1838, 112).
Esquirol äußert an anderer.
Stelle übrigens auch schon Bedenken in der Frage, ob denn "die
Isolierung" stets "als erstes Hauptmittel bei der Behandlung"
anzusehen sei - m. E. eine erste Überlegung zu unserem Thema des gemeinsamen
Lebens von Behinderten und Nichtbehinderten. "Aber kann nicht aus dem
Zusammenwohnen der Geisteskranken das entstehen, daß sie sich gegenseitig
schaden; und würde nicht der verständigste Mensch ein Narr werden, wenn er
gezwungen wäre, mit Geisteskranken zu leben? ... Aber es gibt doch
Geisteskranke, die in ihrer Familie verbleiben und dennoch heilen ... Aber ich
sage noch mehr. Die Isolierung war bei einigen Geisteskranken von sehr übler
Folge. Was soll man hieraus schließen?" (Esquirol, 1838, 126) Seiner
Ansicht nach sei es Aufgabe des Arztes, sorgfältig nachzudenken und weise zu
entscheiden, wann "Isolierung" angemessen sei. Diese Bedenken waren
seinen Nachfolgern nicht zu eigen, denn es entstanden schon früh im 19.
Jahrhundert die großen Anstalten für Blödsinnige in Europa.
Die Kontroverse zwischen
defektorientierten und entwicklungsorientierten Erklärungen blieb für die
weitere Betrachtung der Menschen mit geistiger Behinderung bestimmend.
Faszinierend ist dabei, daß in Deutschland schon um die Jahrhundertwende
entwicklungsorientierte Positionen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts z. B. von
Kern, Saegert und Landenberger (nach Dannemann, Schober, Schulze - 1911,
1457ff.) fast vollständig in Vergessenheit geraten waren.
Meyer, 1973, schildert sehr
anschaulich, daß im 19. Jahrhundert unter dem Begriff des "Blödsinns"
oder "Schwachsinns" weit divergierende Begriffe verwendet wurden, die
oft sehr stark von den speziellen Einrichtungen geprägt waren, in denen die
Ärzte und Pädagogen arbeiteten ("Erforschung und Therapie der
Oligophrenien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Meyer, 1973)[2].
Der Schwachsinns-Begriff der
Jahrhundertwende beherrschte die Diskussion auch noch in den zwanziger und
dreißiger Jahren und später in fataler Weise weiter. So hat Lazar (1925, 92)
eine dem Zeitgeist entsprechende Schwachsinnsdefinition gegeben, die uns heute
völlig negativ erscheint und ein vorwiegend defektorientiertes Menschenbild
beschreibt. "Es ist einerseits erklärlich, daß bei einem intellektuell
Defekten die Charaktereigenschaften klar zu Tage treten, weil eine Korrektur
durch den Verstand wie sie dem Normalen zur Verfügung steht, nicht möglich ist
...man findet daher bei Schwachsinnigen alle nur denkbaren Reize und
Ausfallserscheinungen neben ihrem intellektuellen Defekt, und zwar in der Regel
besser ausgeprägt als man es bei den geistig Vollwertigen gewöhnt ist."
Der Kern dieser Schwachsinnstheorie ist die Annahme einer miteinander
verbundenen negativen Abweichung der Intelligenz und des Charakters bis hinab
zu "Karikaturen von Menschen (Lazar, 1925, 92)". Diese negative
inhumane Konzeption wirkte übrigens noch relativ lange nach. Ähnliche
Vorstellungen fanden sich noch bis in die 70er Jahre in Verordnungen zur
Umschulung in die Sonderschule in Deutschland. So schreibt noch 1968 der
Psychologe Wegener: "Die Persönlichkeit des Debilen ist global verändert
... eine Intelligenzschwäche bleibt kein partieller Defekt, sondern beeinflußt
das Gesamtverhalten des Betroffenen im Sinne einer 'Gesamtseelenschwäche'. Es
wird angenommen, daß das Gefühls- und Willensleben der Debilen durch ihre
geistige Insuffizienz erheblich beeinflußt ist und daß auch das Sozialverhalten
weitgehend abhängig von der Intelligenz des Individuums sei, daher folgen der
intellektuellen Schwäche fast immer auch Anpassungs- und
Einordnungsschwierigkeiten." (Wegener, 1968, 515 in: von Bracken, 1968).
In bezug auf die Möglichkeiten einer Unterteilung der Schwachsinnsformen
schrieb aber schon in den sechziger Jahren der Psychiater Weitbrecht, 1963
(Schüler Kurt Schneiders): " Was Schwachsinn ist, ist gar nicht so leicht
zu bestimmen. Die hübsche Definition Kreapelins, Schwachsinnige seien Leute, in
deren Gehirn nicht viel los ist, trifft zwar das wesentliche durchaus, wird
aber zweifellos wissenschaftlich nicht für "seriös genug" gehalten.
(Wissenschaftliche) Definitionen der Intelligenz ... besagen im Grunde nichts
anderes ... (Weitbrecht, 1963, 173).
Etwas vorher heißt es auch:
"Die altehrwürdigen
klinischen Begriffe: Debilität, Imbezillität und Idiotie stellen keine
Differentialdiagnosen dar. Am besten würde man ganz auf sie verzichten. Sie
bezeichnen nichts anderes als einen Schweregrad der Ausfälle, und es genügt
vollauf, von leichtem, mittlerem und schwerem Schwachsinn zu sprechen." |
Dennoch hat sich der Begriff
der Oligophrenie mit seinen Unterteilungen als sehr zählebig erwiesen. Er
findet sich so z.B. in Lexika der Medizin der 90er Jahre wieder
(Pschyrembel,1994 und Boss, 1995).
Mit relativ starker
zeitlicher Verzögerung sind in Deutschland andere Konzepte rezipiert worden.
Man muß sich vor Augen halten, daß zu dem Zeitpunkt, an dem Heinz Bach (1974)
noch von den "multidimensionalen Schädigungen" des geistig
Behinderten und einer IQ - Klassifikation spricht, bereits Heber (1964) in den
Staaten jegliche pauschalierende Charakterisierung der Personengruppe der
geistig Behinderten abgelehnt hatte: "Den geistig Behinderten werden eine
große Zahl von unerwünschten Persönlichkeitscharakteristiken zugeschrieben. Die
Behinderten sind als zur Kriminalität und Verwahrlosung neigend, als defekt in
der Kontrolle des Über-Ich, als unfähig zur Hemmung biologischer Grundtriebe
(Eßdrang), als von gesteigerter Sexualität besessen und als Personen mit
niedriger Frustrationstoleranz beschrieben worden. Man hat sie als
suggerierbar, rigide, emotional labil, ängstlich, passiv und zurückgezogen und
als aggressiv und feindselig beschrieben. Autoren, die solche
Verallgemeinerungen machen, zitieren selten die Quellen ihrer Kenntnisse.
Häufig werden die der Gruppe zugeschriebenen Charakteristika nicht
definiert." (Heber, 1964).
Daß zudem die damals
vorliegende Forschung über die Persönlichkeit geistig behinderter Menschen
wenig originäre Resultate vorzuweisen hatte, hat schon Spreen 1978 bemerkt:
"In der Tat ist über die Persönlichkeit geistig Behinderter erst so wenig
geforscht worden, daß nur wenige Schlußfolgerungen definitiver Art gezogen
werden können" (Spreen, 1978, 78). Es scheint aus heutiger Sicht
unverständlich, wie auf der Grundlage nur weniger Untersuchungen so
weitreichende negative Schlußfolgerungen in bezug auf das Phänomen der
geistigen Behinderung gezogen werden konnten.
Seit den 70er Jahren haben
sich andere Denkvorstellungen durchgesetzt. Trotzdem halten sich hartnäckig
sehr stereotype Vorstellungen "vom Wesen des Oligophrenen" (Eprecht
& Ritz, in Bartz, 1977, 163): "Diese geistig Invaliden sind in den
meisten Fällen sehr anhänglich, liebebedürftig, oft rührend in ihrer
Anteilnahme; sie können aber auch überaus widerspenstig, bockig, jähzornig
werden." Und an anderer Stelle heißt es: "So werden unsere Bemühungen,
ihm etwas beizubringen, oft der Dressur näherstehen als der üblichen
Erziehung." Diese Feststellungen sind bestenfalls Vorurteile.
Das Problem der
diagnostischen Erfassung der "geistigen Behinderung" hat in
Psychologie, Behindertenpädagogik, aber auch Kinder- und Jugendpsychiatrie eine
Reihe von wissenschaftlichen Entwicklungen mit besonderer Bedeutung für die
alltägliche Praxis beeinflußt. Dabei haben sich Klassifikationen auf der
Grundlage psychometrischer Diagnosen als ein Irrweg erwiesen, und dies nicht
nur in bezug auf die praktische Anwendung der bislang vorgeschlagenen
Kriterien. Internationale Klassifikationssysteme psychischer Krankheiten
folgten den damals vorherrschenden Vorschlägen, Werte von Intelligenztests als
Grundlage einer Unterscheidung in "mäßigen, leichten, mittleren und
schweren Schwachsinn" zu benutzen. Trotz der schon in den 60er Jahren
geübten Kritik an der an den Intelligenzbegriff gebundenen Definition der
geistigen Behinderung wurde auch in den weiteren Revisionen der ICIDH an der
herabgesetzten Intelligenz als zentralem Merkmal der geistigen Behinderung
festgehalten. "Die Erfassung des intellektuellen Niveaus sollte auf der
Grundlage aller möglichen erfaßbaren Informationen erfolgen, wozu klinischer
Eindruck, Anpassungs-Verhalten und psychometrische Daten gehören. IQ-Messungen
erfolgen auf der Grundlage von Tests mit einem Mittelwert von 100 und einer
Standardabweichung von 15, wie z. B. den Wechsler-Tests. Sie sollten lediglich
als Orientierung dienen und nicht starr angewandt werden" (WHO 1975). Dies
ist jedoch nie befriedigend gelungen, wie wir später zeigen werden. Entweder
wurden die Werte starr interpretiert oder lediglich nur von Fall zu Fall zur
nachträglichen Rechtfertigung des Vorgehens herangezogen. In den 70er Jahren
wurden so in Deutschland nur gut ein Drittel aller geistig behinderten Menschen
in Schulen oder Heimen tatsächlich überhaupt je mit psychodiagnostischen
Verfahren untersucht. Die obige Definition scheint also praktisch nicht
vollständig angewendet worden zu sein (Eggert & Bremer-Hübler; 1990)[3].
KLEBER (1973) |
TERMAN (1916) |
WHO (1974) |
BACH (1975) |
BONDY[4] (1956) |
Hauptschule 90 - 110 |
Dullness 80 - 90 |
|
|
|
Lernbehinderung 70 - 90 |
Borderline 70 - 80 |
|
|
Leichte Intelligenzschwäche 70 - 84 |
Geistige Behinderung <20 bis 70 |
Debilität 50 - 70 |
Leichte Geistesschwäche 50 - 69 |
Lernbe-hinderung 55 - 75 |
Mäßige Intelligenzschwäche 55 - 69 |
|
Imbezille 20 - 50 |
Mittlere G. 20 - 49 |
Geistige Behinderung <20 bis 55 |
Schwere Intelligenzschwäche 40 - 54 |
|
Idioten <20 |
Schwere G. 0 - 19 |
|
|
Tabelle 1: Einteilung der geistigen Behinderung nach
Intelligenz-Quotienten
Die Versuche einer
psychologischen Definition der geistigen Behinderung anhand von
Intelligenzquotienten waren wenig praktikabel, weil sie von sehr
unterschiedlichen Grenzwerten ausgingen und weil sich einige methodische und
technische Probleme der Intelligenzmessung als nicht überwindbar erwiesen. Man
hätte sich damit eigentlich schon Ende der 60er Jahre konsequent vom IQ als
Klassifikationskriterium verabschieden können. Daß es heute noch nötig ist,
intensiv auf die relative Unbrauchbarkeit des IQ für die Diagnose von Menschen
mit geistiger Behinderung einzugehen zeigt, welches Beharrungsvermögen auf
ungeeigneten, aber sehr praktikablen Methoden die gegenwärtige Diagnostik auszeichnet.
Im Zusammenhang mit der zunehmenden Einführung des gemeinsamen Unterrichts in
die Schulgesetze und Erlasse der Bundesländer in Deutschland hat sich um die
Frage, wie brauchbar der Einsatz von Tests ist, wieder ein - fast
anachronistisch anmutender - Kampf zwischen Testbefürwortern und Testgegnern
aufgebaut.
Die obenstehende Tabelle
zeigt im Vergleich verschiedene Einteilungen des Grades der
"Geistesschwäche" oder der "geistigen Behinderung" nach
IQ-Werten. Die Grenzwerte sind relativ willkürlich, unterscheiden sich stark
voneinander und reichen sehr weit auf der IQ-Skala. Der Vorschlag von Kleber
(1973), den Bereich der Lernbehinderung bis zu einem IQ von 90 zu erstrecken,
hätte in der Praxis bedeutet, daß bis zu 25% der Bevölkerung als "lernbehindert"
definiert worden wären (IQ 90 entspricht einem Prozentrang von 25).
Es stand übrigens schon in
den 70er Jahren fest, daß nicht nur die sehr uneinheitlichen Grenzwerte eine
verläßliche Klassifikation unmöglich machten, sondern daß darüberhinaus eine
Fülle von technischen Problemen der sehr unvollkommenen Technologien der
Intelligenzmessung letztlich unüberwindbare Schwierigkeiten darstellten.
Kritik an
Intelligenztests aus der Sicht praktischer Persönlichkeitsdiagnostik[5]
Fazit: Keine befriedigende
Grundlage für Diagnose und Klassifikation |
Bei dieser unzureichenden
Qualität der diagnostischen Methoden war damit für die wissenschaftliche
Diskussion deutlich, daß die Methodologie der Tests nicht für eine
Klassifikation geeignet war, und in den neueren Klassifikationssystemen
verringerte sich sehr stark die Bedeutung der Testdiagnostik für Menschen mit
geistiger Behinderung - leider jedoch zuerst einmal im angelsächsischen und
skandinavischen Raum und weniger in den deutschsprachigen Ländern, in denen
sich trotz zunehmender inhaltlicher und formaler Kritik eine relativ große
Gruppe von Testbefürwortern erhalten hat.
Auch in den internationalen
Klassifikationssystemen drückt sich der beschriebene Wandel aus. So hat das
ICIDH-System (1986) sich zum Beispiel von einer Klassifikation der geistigen Behinderung
weg zu einem System entwickelt, in dem bestimmte Fähigkeitsstörungen als
Beschreibungsmerkmale in den Vordergrund treten, um Beeinträchtigungen,
Fähigkeitsstörungen und Schädigungen unterscheiden zu können.
Das DSM-III-R-System
(Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen, deutsch von
Wittchen u.a., 1991) faßt "geistige Behinderung" unter der Kategorie
der "Entwicklungsstörungen".
Entwicklungsstörungen: Hauptmerkmale sind vorwiegend Auffälligkeiten
beim Erwerb von kognitiven, sprachlichen, motorischen und sozialen
Fertigkeiten. Die Störung kann sich in einer generell verzögerten Entwicklung
ausdrücken, beispielsweise in einer geistigen Behinderung ... Geistige Behinderung: Hauptmerkmale dieser Störung sind: (1) deutlich
unterdurchschnittliche allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit (ein IQ
von höchstens 70) bei (2) gleichzeitig gestörter oder eingeschränkter
Anpassungsfähigkeit (Erfüllung sozialer Normen, die sein soziales Umfeld für
Personen seines Alters erwartet), und (3) Beginn vor Vollendung des 18.
Lebensjahres. Der Verlauf einer
geistigen Behinderung ist sowohl abhängig von einer zugrunde liegenden
verursachenden Erkrankung als auch von Umweltfaktoren, wie zum Beispiel der
Erziehung und anderer Bildungsmöglichkeiten, Stimulation durch die Umwelt und
dem geeigneten Umgang mit der Störung selbst. ... Die Prognose der
geistigen Behinderung hat sich in den letzten Jahren enorm verbessert. Die
meisten geistig behinderten Menschen fügen sich heute im Rahmen ihrer Möglichkeiten
gut in das soziale Leben ein ... In diesen Fällen kann die Diagnose einer
geistigen Behinderung nicht länger gerechtfertigt sein. |
Das Manual bezieht sich noch
darauf, daß das Hauptmerkmal einer geistigen Behinderung eine deutlich unterdurchschnittliche
allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit bei einem IQ von höchstens 70 sei,
führt aber gleichrangig damit die gestörte oder eingeschränkte
Anpassungsfähigkeit auf. Vor allem in den Aussagen über die Prognose wird dabei
der Boden traditioneller Vorstellungen verlassen, wenn z.B. festgestellt wird,
daß die Diagnose einer geistigen Behinderung unter bestimmten Bedingungen nicht
länger gerechtfertigt sein könnte. Damit wird das bislang gültige
Konstanzparadigma verlassen, nach dem bislang geistige Behinderung als ein
"unveränderbares Phänomen" betrachtet wurde.
In der angelsächsischen
Literatur hat man schon relativ früh die geringe Brauchbarkeit
komplexitätsreduzierender Klassifikationen gesehen. So meint Spreen 1978 schon,
daß "Klassifizierungssysteme wie die Schubladen in einem
Karteikartensystem sind. Sie helfen bei statistischen Übersichten und
oberflächlichen Gruppierungsversuchen. Ihr Nachteil liegt darin, daß die
Individualität des einzelnen Behinderten verlorengeht, es sei denn, man nimmt
sich die Zeit, den Einzelfall gesondert zu betrachten. Klassifizierungssysteme
verleiten zu der Auffassung, daß die darin enthaltenen Gruppen wirkliche
Einheiten sind. Diese Auffassung ist vielleicht berechtigt, wenn man
organisatorischen Problemen einer größeren Gruppe gegenübersteht. Für den mit
zwölf geistig Behinderten arbeitenden Psychologen, Arzt oder Sozialarbeiter
wird es jedoch schnell klar, daß man zwölf Individuen gegenübersteht, die in
ihrer Wesensart, in den Formen ihrer Einsicht und in ihrem Anpassungsvermögen
höchst unterschiedlich sind, auch wenn sie in der Statistik als "homogene
Gruppe" erfaßt und kategorisiert wurden (Spreen, 1978, 5). Auch das
"klassische" Lehrbuch der amerikanischen Psychologie der geistigen
Behinderung von Robinson und Robinson (19762) drückt dies aus:
"Der Karteikastenansatz
hat daher nur begrenzte Möglichkeiten. Der Psychologe widmet statt dessen seine
Anstrengung der Beantwortung der spezifischen Fragen, mit denen das Kind erstmals
seine Aufmerksamkeit beanspruchte, beschreibt seine gegenwärtigen
Schwierigkeiten exakt und formuliert mehr oder weniger präzise Handlungspläne.
Es scheint jedoch klar, daß die Zeit sich deskriptiven Bewertungen zuwendet.
Viel Anstrengung wurde vergeudet mit Definieren, Kritisieren, Neudefinieren
stark übersimplifizierter Benennungen".
Mercer (1973) hat darauf
hingewiesen, daß der Begriff geistige Behinderung oft für den so eingeordneten
Menschen gesellschaftliche Nachteile durch Vorurteile, schematische Einordnung,
erzieherischen Pessimismus und anderes bedeuten kann. Der Begriff wird auch aus
vielen Gründen häufiger bei Amerikanern dunkler Hautfarbe, bei männlichen oder
körperbehinderten Menschen, bei spanisch sprechenden Amerikanern und bei sozial
benachteiligten Menschen benutzt, ist also in der Verwendung diskriminierend.
Während Mercer noch
vorschlägt, zwischen Personen zu unterscheiden, denen der Begriff Schutz und
Hilfe bieten kann und solchen, für die er eine Belastung darstellen kann, sagt
Braginsky,1974: "Man kann sich nicht vorstellen, daß Forscher, die sich
mit Schwachsinnigen, insbesondere in Anstalten beschäftigen, jemals den Begriff
geistige Behinderung als Schutz sehen können. Dieser Begriff hat für den
Betroffenen nichts zu bieten als zusätzliche Belastung und Behinderung. Der
Begriff trägt nichts zu unserem Verständnis des Problems bei, noch zu der
Frage, ob der Betroffene ein Problem hat oder nicht. Der Begriff transformiert
einen Menschen sozial in einen Schwachsinnigen und schließt ihn dabei nicht nur
für immer von einer sinnvollen Beteiligung am Leben der Gesamtbevölkerung aus,
sondern entfernt ihn sehr oft völlig aus der Gemeinschaft und führt dazu, daß
er sein Leben gleichsam in einem Ghetto für nicht verwendungsfähige Menschen
verbringt. Betrachtet man solche Ergebnisse oder die Forschung, ist da nicht
die Zeit gekommen, wo wir aufhören (sollten), unsere Diagnosen zu verbessern
und sie völlig verwerfen sollten?"
Eine solche Denkweise, die
z. B. auch auf die Beschreibung von Menschen mit Lernbehinderung übertragen
werden kann, warnt davor, klassifizierende Begriffe zu benutzen, da trotz guter
Absichten aus dem Begriff allein dem Menschen zusätzlich behindernde
Bedingungen geschaffen werden können.
Nun läßt sich gerade in der
Behindertenpädagogik kein völlig neuer und damit nicht diskriminierender
Begriff denken, weil beim Wechsel der Begriffe die Konnotationen des alten
Begriffes bald schon auch auf den neuen Begriff übertragen werden. Man kann z.
B. der Schule für Lernhilfe als Nachfolgerin der Sonderschule für
Lernbehinderte ohne große Probleme vorhersagen, daß sie nach kurzer Zeit
denselben schlechten Begriffsrahmen haben wird wie die Sonderschule für
Lernbehinderte es vorher hatte. Sinnvoller erscheint es dann, bestimmte Institutionen
wie große Anstalten oder die Sonderschule für Lernbehinderte selbst entweder
gründlich zu verändern oder ganz abzuschaffen. Die Argumentation des Anti-
Etikettierungsansatzes ist ein sehr ernsthaftes Plädoyer dafür,
Klassifikationen und Typologisierungen möglichst ganz zu vermeiden[6].
Gerade hier setzen jedoch
Probleme der Praxis ein. Nach etwa 25 Jahren diagnostischer Gewohnheiten, in
denen gerade nach den typischen Merkmalen von Lernbehinderten und geistig
Behinderten gesucht wurde, fällt es vielen Praktikern jetzt schwer, sich von
einer derartig klassifizierenden Diagnostik zu verabschieden und sich einer
Einzelfallbeschreibung zuzuwenden, wie dies in den Verordnungen zur
Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in den Bundesländern
gewünscht wird, die den gemeinsamen Unterricht für behinderte und
nichtbehinderte Kinder einführen. Es wird sicher lange dauern, bis ein
typisierendes Denken aus einer medizinischen Modellvorstellung für Diagnose und
Förderung heraus als überwunden angesehen werden kann. Es gilt ja nicht nur,
sich vom Typus des Lernbehinderten und geistig Behinderten zu verabschieden,
sondern auch von einer Diagnostik, deren Ziel die Zuordnung von Individuen zu
Typengruppen gewesen ist.
Die Veränderungen in der
Sichtweise der Diagnose sind nun keineswegs zufällig, sondern folgen
allgemeinen Veränderungen in den Denkvorstellungen über die Persönlichkeit von
Menschen mit geistiger Behinderung.
Der Wechsel von der Konstanz
zur Veränderungsannahme ist sicher als übergeordnetes Moment dieses Wandels zu
sehen, d.h. die Überwindung der Annahme, daß eine Behinderung ein letztlich
unveränderbarer Defekt sei, der in umweltunabhängiger Weise die Lebenschancen
eines Individuums begrenze. Zur Veränderungsannahme gehört dagegen, daß eine
geistige Behinderung genauso wie eine körperliche Behinderung nur individuelle
Bedingungen setzen kann, deren tatsächliche spätere Wirkung auf die Entwicklung
jedoch nicht ohne weiteres im voraus bestimmbar ist. Entscheidend ist die
ganzheitliche Wirkung einer Förderung so früh und so umfassend wie möglich.
Die zweite zusätzliche
wichtige Veränderung betrifft den Wechsel von der Segregation über die
De-Institutionalisierung zur Integration bzw. zum Mainstreaming. Eine Konsequenz
neuer Forschungen und eines veränderten Denkens über geistig Behinderte in den
USA war z.B. die Entdeckung (Zigler & Balla, 1982), daß viele der
vermeintlichen Defekte geistig behinderter Menschen lediglich Artefakte der
Anstaltsunterbringung waren und daß durch die Auflösung der Anstalten
(Deinstitutionalisierung, Bruininks, 1983) viele dieser vermeintlich
"defekten" Persönlichkeitsentwicklungen positiv verändert werden
konnten. Eine stärkere Integration in die Gemeinde, in Wohnungen in Gemeinden
und Wohngruppen oder Selbsthilfegruppen war die Folge des
Deinstitutionalierungsprozesses. Im schulischen Bereich hat dieser Prozeß zum
Mainstreaming geführt, der Organisation, so viele Kinder wie möglich unter dem
Normalisierungsgedanken mit besonderen pädagogischen und therapeutischen Hilfen
und unter Berücksichtigung ihrer besonderen Förderbedürfnisse ("special
needs") gemeinsam mit den anderen Kindern ihres Schulbezirkes leben und
lernen zu lassen.
Im Zuge der Umsetzung des
Integrations- und Normalisierungsgedankens hat die Behindertenpädagogik
Abschied von der Annahme genommen, daß durch eine weitere ständige Optimierung
der diagnostischen und therapeutischen Modelle quasi automatisch auch ein
Fortschritt in der Entwicklung der Förderung von Menschen mit geistiger
Behinderung zu erzielen sei. Der Anti-Labeling-Approach hat gezeigt, daß der
Glaube an die Sinnhaftigkeit und an die Nützlichkeit einer psychologischen Klassifikation
und Typologisierung der geistigen Behinderung nach Intelligenzquotienten,
Motorikquotienten oder sozialen Quotienten wenig sinnvoll ist.
Mit der Abkehr von der
Annahme, daß man anhand von Intelligenz- oder Motorikquotienten sinnvolle
Untergruppen von Menschen z.B. mit geistiger Behinderung bilden könne, hat sich
auch im Bildungsbereich der Gedanke der Beschreibung des Leistungsspektrums von
Menschen mit geistiger Behinderung von einer Beschreibung von typologischen
Gruppenmerkmalen hin zum Aufbau individualisierter Erziehungspläne (I-E-P) im
Rahmen des Mainstreaming gewandelt. Differenzangaben zu nichtbehinderten
Menschen erwiesen sich als sinnlos für die Förderung von behinderten Kindern
und Jugendlichen im Rahmen des Mainstreaming, denn aus Defekt-, Schädigungs-
oder Differenzangaben sind keine Interventionsstrategien im pädagogischen
Bereich abzuleiten.
Ein weiterer Wandel der
Denkvorstellungen ergibt sich aus der Veränderung innerhalb der Entwicklungspsychologie.
Nicht nur, daß die Entwicklungspychologie die Annahme einer weitgehend
parallelen Entwicklung vom chronologischen und psychologischen Lebensalter bis
zur Reife aufgegeben hat (das ist schon relativ lange akzeptierte Tatsache), sondern
vor allem darin, daß ihre Orientierung inzwischen die lebenslange Entwicklung
des Individuums in seiner spezifischen Umwelt zum Gegenstand hat (life span
development).
Wenn nämlich Entwicklung als
ein lebenslanger Prozeß verstanden wird, so ist auch für Therapie oder
Intervention (oder pädagogische Förderung) ein lebenslänger Prozeß zur
Erreichung langfristiger humaner Ziele zu fordern.
Unterstützung hat dieser
Gedanke aus einer Richtung gefunden, aus der man bislang wenig Unterstützung
erhoffen durfte: aus dem Gesundheitssystem. Die "Ottawa-Charta für
Gesundheitsförderung", WHO (1986), greift einerseits den Gedanken der
ganzheitlichen Einbettung der Gesundheit in den sozialen Lebenszusammenhang
auf, andererseits auch die Vorstellung, daß die Förderung der Gesundheit ein
lebenslanger Prozeß sei[8].
Für die Psychodiagnostik
ergeben sich dadurch vehemente Veränderungsnotwendigkeiten. Zum einen wird die
Diagnostik gezwungen, auf der Verhaltens- und Handlungsebene neue methodische
Konstrukte mit dem Ziel einer stärker subjektiv orientierten
Kind-Umwelt-Diagnostik zu entwickeln, zum anderen wird aus der
Verhaltenstherapie der Gedanke der Einheit von Diagnose und Therapie in
identischen Kategorien übernommen und zum dritten wird zusätzlich der Gedanke
formuliert, daß aus einem systemischen Denken - aus einer Verknüpfung der
Bindung der Entwicklung an Kind-, Umwelt- und Familienstrukturen - überhaupt
eine umfassende ganzheitliche Förderung plan- und organisierbar wird (vgl.
Eggert, 1996).
Normative Verfahren können diesem
Anspruch einer ganzheitlichen und systemischen Sichtweise nicht mehr genügen,
sie sind "alte Hüte" (Spiegel, 1995) geworden, weil ihre
testmethodischen Grundlagen nicht mehr erfüllbar sind und weil die
Qualitätskontrolle der Verfahren nicht mehr aufrechterhalten werden kann (vgl.
Schorr, 1995):
Tests können und konnten
nicht die Wünsche der Praxis nach einer objektiven Messung und Einordnung
befriedigen. Zudem folgt der Umgang mit den gemessenen Daten einer Reihe von
praktischen Regeln, die oft aus unreflektierten Denkfehlern bestehen (wie z.B.
die falsche Annahme, daß unter einem IQ von 85 der Bereich der Lernbehinderung
beginnen würde. Bei einem Prozentrang von 16 für einen IQ von 85 wären damit
16% eines Schuljahrganges lernbehindert).
Ökonomie - oder: das leidige Zeitproblem Von der (Schul-)Verwaltung
gewünscht: das "Ei des Columbus" oder "die eierlegende
Wollmilchsau" oder ein treffsicheres, objektives Diagnostikum zeitsparend
und umfassend, ohne große Voraussetzungen anwendbar etc. Aber: - Je kürzer die Zeit,
desto schmaler die Erkenntnis! - Bei geringem Aufwand
auch nur geringe Erträge! Also: Eine umfassende
pädagogische Beurteilung eines Kindes braucht viel Zeit und einen hohen
Aufwand - aber diese Zeit ist sinnvoll genutzt. Fazit: Die knappe zur Verfügung stehende Zeit sollte
besser genutzt werden, um eine intensive lernbegleitende individuelle
Kind-Umfeld-Diagnostik durchzuführen. |
Interne Logik und Methodik der
klassischen Testkonstruktion haben sich als Methode der Messung und Bewertung
menschlicher Fähigkeiten im Bereich der Behindertenpädagogik nicht bewährt und
sollten deshalb nun bald endlich aufgegeben werden.
Von hier wird es nun
sinnvoll zu beschreiben, welche Alternativen sich bieten, wie sie theoretisch
zu begründen sind und welchen Qualitätskriterien sie genügen sollten.
Was sind die
Alternativen zu Tests?
|
Die folgende Textbox soll
den stattgefundenen Wandel zusammenfassend verdeutlichen:
Konsequenzen
des Paradigmenwechsels für die Diagnostik
|
Im folgenden Textabschnitt
möchte ich nun versuchen, einige denkbare Alternativen zu beschreiben.
In den Methoden einer
qualitativen Lernförderungsdiagnostik im Team (Eggert,1996) kann man eine
Möglichkeit sehen, die oben beschriebenen Ziele in der Praxis zu erreichen:
Qualitative
Lernförderungsdiagnostik im Team ... ist ein auf das
Individuum zugeschnittener diagnostischer Prozeß ... sucht die "am
geringsten einschränkende Lernumwelt" ... vermeidet Klassifikationen
und Auswahl für Institutionen ... ist ein ständiger
Prozeß von Beobachtung, Hypothesenbildung, Förderung, Neubewertung und
Veränderung von Förderung ... beurteilt und
beeinflußt langfristig Prozesse des Lernens und der Entwicklung und nicht
punktuell Produkte. ... ist auf die
Zusammenarbeit im Team z.B. in einer Integrationsklasse oder in einem
Förderausschuß oder einer Fördereinrichtung angewiesen, in dem gemeinsam
geplant, organisiert, entschieden wird ... braucht auch die
Bestimmung von Lernausgangslage und allgemeinen Orientierungsdaten für
pädagogische Prozesse ... ist auf
Differenzierung, offenen Unterricht, Kooperation von Sonder- und allgemeinen
Pädagogen und Integration in der Schule ausgerichtet ... ist vor allem an
inhaltlichen pädagogischen und didaktischen Theorien und weniger an
psychologischen Konstrukten orientiert ("Abschied von der
Psychologie"). ... versucht vom
Standpunkt des betroffenen Individuums aus zu argumentieren und Diagnose im
Hinblick auf Förderung zu planen ... setzt fundiertes
pädagogisches Handlungswissen voraus. |
Für die Erfüllung dieser
Aufgaben sind normative Verfahren nicht geeignet, da sie in der Regel keinen
inhaltlichen Bezug zu Fördermaßnahmen aufweisen. Es sind aber folgende
Alternativen denkbar:
1. Variationen und Neu -
Zusammenstellungen von Items bekannter Tests 2. Diagnostische Inventare
im Bereich der Lernvoraussetzungen 3. Diagnostische Papiere
für die Beurteilung der Lernstände 4. Qualitative
Einzelfallbeschreibung durch ein Team |
Unter der Annahme, daß sich
in vielen Tests Aufgabensammlungen befinden, die mit hohem intellektuellen und praktischen
Aufwand zusammengestellt wurden und einen breiten Erfahrungshorizont
widerspiegeln, kann aus den bestehenden Verfahren durchaus eine Auswahl von
brauchbaren Aufgaben vorgenommen werden, die sich dann (wie später bei den
diagnostischen Inventaren) sehr stark an die Bedürfnisse der jeweiligen
Untersuchungssituation und die Erfordernisse der Untersuchungsgruppen
ausrichtet. Am wichtigsten ist dabei das Prinzip der Aufgabenvariation, um
durch maximale Hilfe und Unterstützung die Prüf- in eine gemeinsame
Lernsituation umwandeln zu können. Folgende Veränderungen sind so z.B. denkbar:
Es gibt viele weitere Beispiele
für mögliche Veränderungen. So kann man auch die Form der Beobachtung
verändern, in dem das Kind selbst die Auswahl der Aufgaben trifft oder z. B. in
die Rolle des Versuchsleiters schlüpft und in einer Interaktionssituation den
bisherigen Testleiter nun selbst überprüft.
Für den HAWIK und ähnliche
Tests hat sich gezeigt, daß Praktiker vor allem dem Mosaiktest einen hohen
diagnostischen Stellenwert beimessen. Es empfiehlt sich also, aus diesem Test
ein informelles Verfahren zu machen. In der Praxis finden sich schon eine ganze
Reihe derartiger informeller Aufgabensammlungen, die auch einzelne Aufgaben aus
anderen bekannten Tests mit umfassen und die vor allem im Bereich der
Diagnostik von Teilleistungsstörungen eingesetzt werden.
Auch Teile der Testbatterie
für geistig behinderte Kinder (TBGB, Bondy u.a., 1969) könnten umgewandelt
werden, obwohl wegen der stark epochal veralteten Vorlagen eher davon abzuraten
wäre.
Vor allem für den Bereich
der Beobachtung und Beurteilung von Lernvoraussetzungen bieten sich in der
Psychomotorik entwickelte diagnostische Inventare an. Die Inventare greifen zum
einen den Gedanken auf, die Auswahl aus einem Satz von vorgeschlagenen Beobachtungssituationen
je nach Problemlage und Untersuchungssituation durchzuführen (also nicht eine
Standardreihenfolge der Aufgaben für alle Situationen gelten soll) und für alle
Aufgabentypen motodiagnostische Beobachtungssituationen in unterschiedlichen
Schwierigkeitsgraden durch die Variation der Aufgaben anzubieten.
Diese Inventare haben sich
zur Erfassung psychomotorischer Basiskompetenzen wie: Gleichgewicht,
Kraft/Ausdauer, Schnelligkeit, Gelenkigkeit und der visuellen, auditiven und
taktilen Wahrnehmung als Grundlage einer psychomotorischen Förderung auch bei
Kindern mit einer geistigen Behinderung sehr gut bewährt (Eggert u.a., 1992;
Eggert u.a., 1993).
Aus der weiter oben
beschriebenen Problematik einer Bestimmung des Förderbedarfs von Kindern aus
Persönlichkeits-, Intelligenz- oder Schulleistungstests ergab sich schon
relativ früh in der sonderpädagogischen Praxis in Niedersachsen die
Notwendigkeit, regional bestimmte Aufgabensammlungen zusammenzustellen (vgl.
Apel u.a. 1989). Es handelt sich dabei um Aufgabensammlungen zu den
Lerngegenständen für die Klassenstufen 1 - 6, die im Sinne von Materialvorlagen
den beobachtenden Sonderpädagogen ein umfangreiches Material zur Bestimmung der
Zone der jeweiligen Entwicklung eines Kindes in den Lerngegenständen
Mathematik, Deutsch (Lesen und Schreiben) und Sachunterricht ermöglichen sollen
(Hannover - Papier, Celler Papier, Braunschweiger Papier und informelle
Aufgabensammlung aus Stade liegen vor). In den meisten Fällen können mit
informellen Beschreibungen der Lernentwicklung und des Lernprozesses in den
Lerngegenständen die wesentlichen Fragen der Höhe des Förderbedarfs und der
Inhalte der Förderung in bestimmten Lernorten ohne die Durchführung von Tests
beschrieben werden.
Vor allem in der Diagnostik
der geistigen Behinderung haben sich unter dem Einfluß des Paradigmenwechsels
sehr weitreichende Veränderungen ergeben.
Spreen, l978, hat schon
relativ früh darauf hingewiesen, daß sich die Psychologie mit einer
Einzelfallorientierung sowieso ihren eigentlichen Fragestellungen viel eher
annähert, als dies unter der Zielsetzung einer klassifikatorischen Zuordnung
möglich war. Wir wollen also im folgenden Textteil für die Diagnostik der
Methode einer Einzelfallbeschreibung im Rahmen des oben beschriebenen Konzepts
einer qualitativen Lernförderungsdiagnostik sprechen.
Eine individuumzentrierte
Diagnostik der Veränderung individueller Person-Umwelt-Einheiten im
lebenslangen Verlauf ist so der Versuch, Veränderungen der Paradigmen in der
Entwicklungspsychologie und Veränderungen vom medizinischen Modell zum
sozio-psychologischen Modell in einer konkreten Handlungsstrategie für den Psychologen
umsetzen und ihm veränderte Aufgaben in der Einzelfallbeschreibung zuzuweisen.
Die folgende Textbox zeigt
anhand von konstruierten einfachen Beispielen, wie sich Ziele und
Beschreibungsweisen vor und nach dem Paradigmenwechsel unterscheiden.
Berichte und
Gutachten ... vor und nach dem Paradigmenwechsel Ziele - Vorher:
|
Beispiel:
M. zeigt das typische
Erscheinungsbild einer mittelgradigen geistigen Behinderung vom Typus einer
Imbezillität am Rande der Debilität. Seine Intelligenz ist sehr stark
herabgesetzt (entspricht dem Stande eines vierjährigen Kindes) und seine
motorischen Leistungen sind stark retardiert. Seine soziale Reife ist
mangelhaft; seine Steuerungsfähigkeit stark herabgesetzt. Aufgrund seiner
eingeschränkten Umweltfähigkeit wird er wohl nur in einer geschlossenen
Einrichtung gehalten werden können.
Ziele - Nacher:
|
Beispiel:
Herr M. ist jetzt im Alter
von 20 Jahren als junger Mann zu beschreiben, der im Kontaktverhalten offen
ist, seine sprachlichen Mittel im Alltag und seine lebenspraktischen
Fertigkeiten gut einsetzen kann, um in einer angepaßten Wohnumgebung allein
leben zu können. Seine Stärken liegen im Kontaktverhalten und in der
Bewältigung von zielgerichteten Kommunikationen im Alltag; seine Probleme
liegen im speziellen Lernverhalten vor allem bei komplexen Lernaufgaben - hier
braucht er viel Zeit für seine individuellen Lösungen. Die Förderziele für
seine weitere Entwicklung liegen vor allem im psychomotorischen und
sensomotorischen Bereich, wo er weiterhin Unterstützung braucht, um das
gewonnene Niveau der Wahrnehmungsorganisation und der Körperkoordination
aufrechterhalten und vielleicht noch weitere Fortschritte machen zu können. Er
hat durch eine intensive Frühförderung eine bestehende Entwicklungsstörung
weitgehend ausgleichen können.
Eine Einzelfallbeschreibung
unter dem Versuch, ein individuelles Bild eines ganzen Menschen in seiner
Entwicklung und in seiner spezifischen Lebenssituation zu geben, könnte von
folgenden Zielsetzungen ausgehen.
Ein Bild vom ganzen
Menschen geben ... Von den Stärken ausgehen ... Negative Bewertungen
vermeiden ... Nicht (ab-) klassifizieren ... Anschaulich auf der
Verhaltensebene schildern ... Individuellen Förderbedarf
beschreiben ... Vergangenes durch Beschreibung der Biographie in seiner Bedeutung
für Gegenwärtiges und Zukünftiges deutlich werden lassen ... Kompetenzen und deren Bedeutung für das Leben des Menschen
beschreiben ...
|
Im Anhang findet sich ein
ausführliches praktisches Beispiel (Martin).
Daneben spielen die
Beschreibung der Interaktionen der Familienmitglieder untereinander und mit dem
Kind und die Interaktion mit den anderen bedeutungsvollen Personen im Leben des
Kindes eine Rolle neben anderen Faktoren des Umfelds. Ein Versuch, schulbezogen
diesen breiten Rahmen an Informationen zu sammeln und in Fördervorschläge
umzusetzen, findet sich in den individuellen, Entwicklungsplänen (Eggert,
1996).
Eine Wiederbelebung der
Methodik der differenzierten individuellen Einzelfallbeschreibung wird sich der
Kritik mindestens in den folgenden Bereichen stellen müssen:
Die Aufgabe einer
Einzelfalldiagnostik ist, über den aktuellen Stand der Entwicklung eines
Menschen unter behindernden Lebensbedingungen Auskunft zu geben, um ihn dann in
seiner weiteren Entwicklung umfassend fördern zu können. Die folgende Abbildung
1 versucht zu zeigen, wie aus der Kenntnis der Gegenwart die vorangehende
Entwicklung in der Vergangenheit erklärt und die Möglichkeiten der Entwicklung
in der Zukunft im Hinblick auf die gedachten Fördermöglichkeiten beschrieben
werden können. Das Ziel ist es, möglichst optimale Förderbedingungen für die
vorhandenen Förderbedürfnisse beschreiben und bereitstellen zu können. Eine
quantitative Diagnostik bietet aber nur eine auf Ergebnisse reduzierte
Zustandsbeschreibung. Es fehlen Fragen zur Erweiterung der Perspektive.
Montada, 1985, hat darauf
hingewiesen, daß die (theoretischen) Grundfragen einer Entwicklungsdiagnostik
zugleich auch die Grundfragen praktischen Handelns sind; nämlich etwa die
folgenden:
Aus einem solchen
Blickwinkel heraus ist die bislang geübte klassifizierende normative Diagnostik
wenig geeignet, da sie sich immer nur auf eine relativ begrenzte Stichprobe aus
der Gegenwart bezog und damit nicht unerhebliche Reduktionen in bezug auf
Stichprobe, Zeit, Persönlichkeitsmerkmale und Personen in Kauf nehmen mußte.
Diese Reduktion des Entwicklungsprozesses auf quantitative Aussagen in einer
punktuellen Untersuchung erwies sich zwar als ökonomisch, jedoch sehr
beschränkt in der Reichweite der Interpretation der gewonnenen Daten.
Unsere graphische
Darstellung und die Fragen von Montada ergänzen sich.
Diagnostik kann nur dann Vergangenes und
Zukünftiges aus der Gegenwart ableiten, wenn sie bereit ist, eine Fülle von
miteinander verbundenen Informationen individuell und strukturiert zu
interpretieren. Merke: Diagnostik kann im Alltag nicht hinter die
komplexen Bedingungen zurückfallen, die diesen Alltag des Menschen
kennzeichnen; sie ist damit von der Sache her notwendigerweise eine komplexe
Angelegenheit. |
Abb. 1: Sinnrahmen diagnostischer Tätigkeit
Darüber hinaus scheint mir
die Frage wichtig, wie weit Diagnostik im Alltag hinter die komplexen
Bedingungen zurückfallen darf, die einen Alltag des Menschen kennzeichnen.
Meine Ansicht ist, daß bei der Verwendung normativer Verfahren oder einer
Diagnose, die nicht lernprozeß- oder entwicklungsprozeßbegleitend ist, eine zu
starke Reduktion der Komplexität erfolgen würde. Einzelfallbeschreibungen auf
der Grundlage langfristiger Beobachtungen von Lern- und Entwicklungsprotokollen
greifen aber auf so viele Informationsquellen im Zusammenhang des
Förderprozesses zurück, daß sie allein durch diese Reichweite der Fragen schon
ein komplexes und dadurch relevantes Bild des Menschen geben können. Wird der
Prozeß der Diagnose und Beschreibung dann zusammen mit dem Betroffenen
erarbeitet, so kann die Übereinstimmung zwischen Beobachter und Beobachtetem
ein zusätzliches Kriterium für die Qualität und das inhaltliche Zutreffen der
Aussagen sein.
Daß eine solche
Einzelfallbeschreibung nun keineswegs auf Qualitätskriterien verzichten muß,
sei anhand der folgenden, rechts nachstehenden Textbox demonstriert:
Voraussetzung ist die
gleichberechtigte Arbeit im interdisziplinären Team mit dem Ziel der
Kooperation. Die Professionalität der Teammitglieder sichert die Güte der Diagnose.
Die Qualität der diagnostischen Urteilsbildung und der Prognose ergibt sich
einerseits aus der Relevanz der Befunde für eine Veränderung der
Lebenssituation des Betroffenen. Eine Entwicklungsprognose aufgrund der
Erfahrungen eines qualifizierten Teams in einem breiten diagnostischen Spektrum
durch Konsens im Team besitzt eine Validität, die dem Grad der gemeinsamen
Erfahrungen und der Zulänglichkeit des diagnostischen Bildes entspricht, das
dadurch entsteht. Wird das entstehende Bild dann noch in Zusammenarbeit mit dem
Betroffenen erstellt, so wäre eine hohe Form von Qualität gesichert -
allerdings müßte der Praktiker dann auch akzeptieren, daß Typologisierungen und
Klassifikationen in einem solchen Rahmen nicht mehr möglich sind.
Qualitätskriterien
einer qualitativen Lernförderungsdiagnostik im Team 1.
"Objektivität" durch Übereinstimmung des diagnostischen Urteils
eines Teams von Fachleuten mit hoher Professionalität. 2. "Validität"
durch eine Entwicklungsprognose auf dem Erfahrungshintergrund der
Teammitglieder (Vorhersage der Entwicklung aufgrund professioneller
Erfahrungen). 3.
"Generalisierung" der diagnostischen Beobachtungen aus dem
Erfahrungshintergrund des Teams (Konsens im Team) und aus der Übereinstimmung
von Diagnose und Fördervorschlägen mit einer allgemeinen Theorie des Lernens
und der Entwicklung. 4. Erweiterung der
Relevanz der diagnostischen Daten durch die größere Perspektive einer
systemischen Betrachtungsweise (ökologische Validität). 5. Übereinstimmung der
Beurteilungen und Prognosen mit der Sicht der Betroffenen (kommunikative
Validität). |
Mit Hilfe derartiger
Einzelfallbeschreibungen könnte die Tätigkeit des Psychologen im Team von der
letztlich unfruchtbaren Arbeit mit ungeeigneten Methoden (Tests) auf
wesentlichere Aufgaben gelenkt werden, die einem psychologischen Verständnis
von Professionalität zudem auch näher kommen.
Menschen mit geistiger
Behinderung und ihre Familien bedürfen immer wieder der Beratung und Hilfe
durch andere: Wenn zum ersten Mal der Verdacht der Behinderung entsteht, wenn
es um Fragen der Eingliederung in Vorschuleinrichtungen oder der Einschulung
geht, bei Entwicklungsstillständen oder gar Entwicklungsrückschritten, bei der
Frage einer Heimeinweisung oder Eingliederung in den Arbeitsbereich, bei Fragen
des Wohnens und an vielen anderen Punkten ihres Lebens eventuell auch.
Wenn auch die Methoden des
Psychologen keineswegs "narrensicher" sind - was aber letztlich für
die Methoden aller in diesem Bereich arbeitenden Berufsgruppen gilt -, stehen
ihm doch mit seinem Wissen aus Lern- und Entwicklungspsychologie, klinischer
und Persönlichkeitspsychologie sowie dem Methodenarsenal außerhalb der
Testdiagnostik Mittel zur Verfügung, die ihm in Zusammenarbeit mit den Kollegen
anderer Berufsgruppen im Team ermöglichen, eine schlüssige Beschreibung zu
liefern und an der Planung und Durchführung der Förderung mitzuwirken. Diese
individuelle Beschreibung sollte dann ausreichen, um Fragen zur gegenwärtig
nötigen Intervention und Förderung zu beantworten. Der Psychologe könnte so den
vermeintlichen Verlust durch den Verzicht auf die Testdiagnostik in anderen
relevanteren Bereichen ausgleichen.
Mit seiner Ausbildung in
Gesprächsführung bietet sich im systemischen Denken und Handeln der Psychologe
als Berater der Familienangehörigen an. Er könnte auch derjenige sein, der die
Untersuchungsergebnisse an die Eltern weitergibt und weitere Schritte mit ihnen
plant. Eltern, die beunruhigt sind über die Entwicklung ihres Kindes, sind sehr
empfindlich, so daß Kontakte mit ihnen zu dieser Zeit sehr viel
Einfühlungsvermögen erfordern. Die spezifische Qualifikation des Psychologen
könnte ihn hier nicht nur zum Anwalt des Kindes, sondern auch von dessen
Familie machen insgesamt also weniger psychometrische Technologie in der
psychologischen Praxis, sondern wieder mehr Kunst und Handwerk in der
gemeinschaftlichen Tätigkeit mit anderen für den Behinderten.
Im Wandel der Paradigmen zur
geistigen Behinderung haben sich auch die Diagnosemöglichkeiten in den letzten
25 Jahren entscheidend verändert: an die Stelle einer klassifikatorischen
Diagnostik, die sich bemühte, Einstufungen nach Grenzwerten der Intelligenz
oder anderer normativer Verfahren vorzunehmen, ist die individuelle
Einzelfallbeschreibung im Rahmen einer systemischen Analyse der Mensch - Umfeld
- Verhältnisse getreten. Damit ist ein Abschied vom IQ und von der Vorstellung
verbunden, daß man unterschiedliche Grade der Intelligenz oder des sozialen
Anpassungsverhaltens mit "objektiven" Maßstäben messen könne. Der
Abschied vom IQ ist zugleich ein Abschied von den Versuchen, Typologien
aufzustellen und Menschen mit geistiger Behinderung danach einzuteilen.
Einzelfallbeschreibungen durch ein diagnostisches Team können im Rahmen einer
qualitativen Diagnostik nicht nur ein Mehr an Informationen zur Förderung
aufzeigen, sondern auch durchaus neuen Qualitätskriterien genügen.
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Die Frage, wie konkret eine
Einzelfallbeschreibung ausfallen kann und wieviel Informationen man mit solchen
Beschreibungen transportieren kann, möchte ich mit der individuellen
Beschreibung eines Kindes im Alter von 7;05 Jahren (Martin) demonstrieren, die
ich einer studentischen Arbeit von Mamsch, 1995 entnommen habe. Martin besucht
eine Integrationsklasse. Die diagnostischen Untersuchungen sind mit der
Zielsetzung begonnen und beschrieben worden, ihm in dieser Klasse eine
besonders fördernde Umgebung zu sichern.
Biographie:
Martin kam im Oktober 1987
als 2. Kind seiner verheirateten Eltern per Kaiserschnitt auf die Welt. Er hat
einen sieben Jahre älteren Bruder, der aufgrund einer Rötelembryopathie schwer
mehrfach behindert geboren wurde. Martin selbst war - bis auf eine
Lungenentzündung - nie ernstlich krank. Vor seiner Einschulung besuchte Martin
ganztags einen Kindergarten der Lebenshilfe in Hannover, in dem er an der
Sprach- und Spieltherapie teilnahm.
Gegenwart:
Martin besucht eine
Integrationsklasse in der Nähe der Wohnung seiner Eltern. Nach der Schule
verbringt er seine Nachmittage in der 3 1/2-Zimmerwohnung der Familie im 3.
Stockwerk einer Hochhauswohnanlage in einem sozialen Problemviertel der Stadt.
Er hat keine Möglichkeit, im Freien zu spielen, weil seine gehbehinderte Mutter
es ihm nicht gestatten mag. Die Mutter hat Angst vor bösen Kerlen. Zudem mag
sie den älteren bettlägerigen Sohn nicht allein in der Wohnung lassen. Martin
wird jeden Tag mit einem Taxi zur Schule und zurück gefahren, hält sich also
ausschließlich "drinnen" auf. Er hat dementsprechend kaum Außenwelterfahrung
und wenig Möglichkeiten für großräumige Bewegungserfahrung.
Beschreibung von Martin:
Martin ist ein
kontakfreudiger und freundlicher Junge, der sich visuell stark an seinen
Mitmenschen - und speziell an seiner Schulfreundin Karin - orientiert. Martin
wurde als geistig behindertes Kind ohne nähere Angaben in die
Integrationsklasse eingeschult. Er wird von seinen Mitschülern akzeptiert,
scheint aber noch nicht voll in der Klasse integriert zu sein. In der Klasse
sind 16 nichtbehinderte und 3 behinderte Kinder. Seine Klassenkameraden ärgern
sich oft über ihn, weil er sich Dinge gedankenlos ausleiht und nicht von allein
wieder zurückgibt. Auch irritiert es seine Tischnachbarn, wenn er in
Stillarbeitsphasen scheinbar grundlos plötzlich laut auflacht oder sich
wiederholt die Nase mit dem Hemdsärmel säubert.
Wenn er das Bedürfnis nach
körperlicher Nähe hat, klammert er sich sofort an Mitschüler oder an die
Lehrerin an und zerrt dabei recht kräftig an ihren Kleidern. Er kann dabei
seine Kraft nicht dosiert einsetzen.
Weint ein anderes Kind, dann
gesellt sich Martin sofort zu ihm, wirkt betroffen und erkundigt sich nach den
Ursachen. Wenn er wütend ist, dann kann er dies durch seine Mimik wirkungsvoll
unterstreichen und dann außerordentlich "finster" aussehen. Im
Gesprächskreis hört er den Erzählungen anderer bis auf gelegentliche Rückfragen
oder Unterbrechungen geduldig und ausdauernd zu und hält die Gesprächsregeln
ein.
Martin spricht
verhältnismäßig schnell, undeutlich und in stichwortartig verkürzten Sätzen, so
daß es oft schwierig ist, den Sinn seiner Ausführungen zu begreifen. Oft
springt er in seinen Erzählungen unvermittelt von einem Thema ins andere. Er
reagiert dann auf Nachfragen irritiert oder beantwortet sie nicht.
Martin gilt als schwerhörig,
jedoch scheint es mir nach meinen Beobachtungen eher, daß er sehr hoch
geräuschempfindlich ist, denn er deckt bei manchen Spielen seine Ohren mit den
Händen ab. Mir scheint eher seine auditive Aufmerksamkeitsspanne sehr gering.
Er wirkt oft so, als hinge er seinen eigenen Gedanken nach. Durch eine
Strategie, sich visuell an seinen Mitmenschen zu orientieren, findet er sich
dann wieder im sozialen Geschehen in der Klasse ein. Martin läßt sich gern von
seinen Lehrerinnen und Mitschülern bei der Bewältigung schulischer Aufgaben
helfen. Für jeden Aufgabenschritt - etwa beim Buchstabenschreiben - fordert er
von ihnen Aufmerksamkeit oder Bestätigung. Lob und emotionale Zustimmung sind
ihm sehr wichtig. Ergebnisse selbständiger Arbeit präsentiert er stolz.
In verschiedenen
Bewegungssituationen fielen mir seine Schwierigkeiten in der
Raum-Lage-Orientierung in kleinen Räumen auf, die im Widerspruch zu seinen
ansonsten präzisen Angaben zu Örtlichkeiten in seiner Umgebung stehen. Martin
kann rechts und links am eigenen Körper und im Raum nicht sicher unterscheiden
und sucht z. B. auf dem Papier nicht von rechts nach links, sondern ungeordnet
nach bestimmten Buchstaben beim Spiel "Buchstabenjagd". Seine Schuhe
verwechselt er auch häufig und fragt nach dem Anziehen auch ständig, ob er sie
richtig angezogen habe. ??? laufen geht er eher sehr schnell bei Spielen. Dabei
ballt er seine Hände zu Fäusten und spreizt seine Finger mit zum Körper
gewandten Handrücken "krallenartig" ab. Martin kann Gefahren bei der
Bewegung abschätzen und bewegt sich im allgemeinen sicher. Er hat jedoch im
Alltagsleben außerhalb der Schule wenig Möglichkeiten, vielfältige und
großräumige Bewegungserfahrungen zu machen. Dem entsprechend sind seine
Bewegungen wenig gelockert und wirken steif und unkoordiniert. Er kann seinen
Körper sehr gut zur pantomimischen Darstellung einsetzen und hat ein gutes
rhythmisches Empfinden.
Martin ist anderen Menschen
und neuen Sachverhalten gegenüber sehr aufgeschlossen.
Zukunft:
In der Integrationsklasse kann
Martin auch in Zukunft eher diejenige Förderung erhalten, die ihn zu einer
erfolgreichen Bewältigung seines Alltags verhelfen kann: psychomotorische
Förderung für seinen hohen Förderbedarf im Bereich der sensomotorischen und
psychomotorischen Voraussetzungen und Fähigkeiten; die Unterstützung seiner
Lehrerin und seiner Mitschüler dabei, mehr Selbständigkeit für eigene
Aktivitäten zu gewinnen. Seine gut ausgeprägten sozialen Fähigkeiten sprechen
entschieden gegen eine Unterrichtung in einer Schule für geistig behinderte
Kinder. Wegen seiner hohen sozialen Sensibilität wäre im Gegenteil eher zu
erwarten, daß er sich abgewiesen und ausgegrenzt bei einer Umschulung fühlen
könnte.
Mir scheint, daß eine
derartige beschreibende individuelle Diagnostik durchaus geeignet ist, nicht
nur ein sehr facettenreiches Bild von Martin zu entwerfen, sondern auch eine
relativ klare Vorstellung davon zu vermitteln, welche Förderschwerpunkte bei
Martin notwendig sein sollten. Dieses Beispiel schildert gut die Möglichkeiten einer
qualitativen Förderdiagnostik mit dem Ziel, Förderbedürfnisse und notwendige
Förderung miteinander zu verbinden.
Da die Beobachtung nicht nur
auf eigenen Beobachtungen der Verfasserin beruhen, sondern sich aus der
Zusammenarbeit mit der Grundschullehrerin und der Sonderpädagogin in der
Integrationsklasse ergeben, erheben sie auch den Anspruch einer recht
weitreichenden Objektivität, da die geschilderten Aspekte das Ergebnis eines
Teamprozesses sind. Ich möchte es dem Leser überlassen, diese Einzelfallbeschreibung
mit gängigen auslesediagnostischen Beschreibungen mit normativen Verfahren zu
vergleichen und selbst den Schluß zu ziehen, aus welcher Beschreibung mehr
Hinweise zur Förderung und für die Lebensplanung eines Kindes möglich sein
könnten.
Univ-Prof. Dr. Dietrich
Eggert
1965-1967 als
Diplom-Psychologe an der Entwicklung der Testbatterie für geistig behinderte
Kinder am Psychologischen Institut der Universität Hamburg beteiligt, 1967-1969
Assistent an einer Psychiatrischen Klinik, 1969-1971 Leiter der Abteilung
sonderpädagogische Psychologie und Sozialpädagogik am Deutschen Institut für
Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt. Seit 1971 Professor für
Psychologie der Behinderten an der Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte
waren und sind: Psychologische Diagnostik, Diagnose und Förderung von lese-,
rechtschreibschwachen Kindern Psychomotorik, Theorien der geistigen
Behinderung, Kritik an der Psychodiagnostik, Förderdiagnostik, psychomotorische
Förderung und Integration. Universität Hannover; Fachbereich
Erziehungswissenschaften I, D-30173 Hannover, Bismarckstraße 2
Quelle:
Dietrich Eggert: Abschied
von der Klassifikation von Menschen mit geistiger Behinderung - Der Paradigmenwandel
in der Diagnostik und seine Konsequenzen
Erschienen in: Behinderte in
Familie, Schule und Gesellschaft, 19. Jahrgang, Heft 1/1996, Seite 43 - 64
bidok - Volltextbibliothek:
Wiederveröffentlichung im Internet
ftp://ftp.uibk.ac.at/pub/uni-innsbruck/bidok/texte/eggert-klassifikation.zip
(RTF-Version)
http://bidok.uibk.ac.at/texte/eggert-klassifikation.html
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Stand: 18. Aug. 2000
[1]
Jedes Kind hat einzigartige Merkmale, Interessen, Fähigkeiten und
Lernbedürfnisse. Schulsysteme sollten so beschaffen sein, daß sie diese weite
Variation in Merkmalen und Bedürfnissen berücksichtigen. Kinder mit besonderem
Förderbedarf müssen Zugang zu allgemeinen Schulen haben, die ihren Förderbedarf
im Rahmen einer kindzentrierten Pädagogik erfüllen sollten. Allgemeine Schulen
mit inklusiver Orientierung sind die wirkungsvollsten Einrichtungen, um
diskriminierende Vorurteile zu bekämpfen, eine integrierende Gesellschaft
aufzubauen und eine "Erziehung für alle" zu gewährleisten (Auszug
durch den Verf.).
[2] Auch
heute werden trotz des Bemühens um eine weltweite Vereinheitlichung unter dem
Begriff der geistigen Behinderung sehr unterschiedliche Konzeptionen
zusammengefaßt. So hatte ein unbekannter Diskussionsteilnehmer der
Weltkonferenz der IASSMD 1988 in Dublin sicher recht, wenn er feststellte, daß
rund 200 Referenten des Kongresses zwar alle von "der" geistigen
Behinderung sprächen, man aber zu recht daran zweifeln könne, daß sie auch alle
einen gemeinsamen oder auch nur vergleichbaren Begriff davon hätten.
[3]
Obwohl dies immer wieder von Praktikern behauptet wurde, ist die Situation bei
der Verwendung von Intelligenztests für die Auslese von Sonderschülern selten
anders gewesen. Selbst wenn IQ-Werte ermittelt wurden, hat die tatsächliche
Einordnung sich höchstens zu 30-40 % auch wirklich nach der Höhe der
ermittelten Werte gerichtet.
[4]
Bezogen auf den Hamburg-Wechsler-Intelligenztest von 1956.
[5] Aus Eggert,
D., Tests für geistig Behinderte, Weinheim: Beltz, 1969
[6] Es
ist übrigens erstaunlich, daß diese Ansichten so wenig in der deutschen
Diskussion aufgenommen wurden, daß sie heute noch eine unbestreitbare
Aktualität besitzen.
[7] Eine
ausführliche Darstellung findet sich bei Eggert, 1990b.
[8]
Förderung der Gesundheit verlangt sowohl die individuelle Entwicklung und
Förderung entsprechender Kompetenzen als auch die Gestaltung entsprechender
Lebens-, Lern- und Arbeitsbedingungen. Gesundheit ist ganzheitlich in ihrer
körperlichen, geistig-seelischen und sozialen Dimension ... sie ist individuell
erlebtes physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden, das zugleich die gesellschaftlichen
und Umweltbedingungen für dieses Befinden einschließt. Um ein umfassendes
körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es
notwendig, daß sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen,
ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt
meistern bzw. verändern können ... Die Verantwortung für Gesundheitsförderung
liegt deshalb nicht nur beim Gesundheitssektor, sondern bei allen
Politikbereichen. Gesundheit ist nicht statisch sondern ein lebenslanger
Prozeß. Komponenten des Gesundheitsbegriffs:
- soziale und persönliche
Kompetenzen,
- positives Selbstkonzept, -
emotionale Stabilität, - Kommunikationsfähigkeit,
- Selbstaktualisierung, -
Sicht der eigenen Person in der Welt, - Körperlichkeit,
- Gewicht, Haltung und
Bewegungsfähigkeit, - (Management der) Streßreize aus der Umwelt, - sinnliche
Wahrnehmung, - Ernährung, - sozialer Rückhalt, soziale Integration, soziale
Unterstützung, positives soziales Klima, - gesundheitsförderliche strukturelle
Bedingungen in Wohnung, Umfeld, Schule, Architektur etc.
[9]
Ausführliche Darstellung dieser systemimmanenten Kritik an der Methodik der
psychometrischen Tests findet sich in Eggert, 1995 und 1996b.